Buchkritik -- Louis-Philippe Dalembert -- Jenseits der See

Umschlagfoto  -- Louis-Philippe Dalembert  --  Jenseits der See Flucht und Vertreibung, Despotie und Diktatur sind die Konstanten in der Geschichte Haitis. Hispaniola, den Namen der geteilten Insel dürfen die wenigsten kennen, auch wenn sie den Billigversprechen einer All-inclusiv Tourismusindustrie Glauben schenken und die Dominikanische Republik besuchen. Der westliche Teil dieses Inselstaates ist für Touristen bestenfalls uninteressant und für die Weltöffentlichkeit allenfalls nach Erdbebenkatastrophen in den Schlagzeilen der Medien präsent.

Louis-Philippe Dalembert, ein haitianischer Schriftsteller, hat in seinem Roman Jenseits der See die wechselvolle, stets von Gewalt und Terror begleitete Geschichte seines Landes anhand zweier Generationen einer Familie erzählt. Im ersten Kapitel beschreibt Granny, die Großmutter des späteren Erzählers Jonas, die Familien- und Inselgeschichte Haitis seit der Zeit der US-amerikanischen Invasion Haitis von 1915-1934. Mit den Augen eines Kindes, das sehnsüchtig aufs Meer schaut und bereit dazu ist, jeden Tag eine Reise zu beginnen, schildert Granny die intolerante und herablassende Behandlung durch die Invasoren.

Die Familie beschließt in den Ostteil Hispaniolas zu flüchten, um dort bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu finden. Ihre Hoffnungen erfüllen sich nicht und nach kurzer Zeit sind sie wiederum gezwungen, die Flucht zu ergreifen. Dabei verliert Granny einen Bruder und der Rest der Familie kommt nur knapp mit dem Leben davon. Einmal mehr sind die Hoffnungen und Träume geplatzt.

Das zweite Kapitel beschreibt die Erlebnisse von Jonas, dem späteren Icherzähler und Enkel von Granny, die die gesellschaftlichen Verrohungen des haitianischen Volkes aufgrund von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen schildern. Mit einer drastischen Ausdrucksweise wird die Lynchung eines Menschen geschildert. Weshalb bleibt im Unklaren, deshalb ist gerade dies ein Symptom für die Verzweiflung der Menschen. Die öffentliche Ordnung ist zusammengebrochen und nackte Gewalt bestimmt das Leben.

Im dritten Teil erzählt Jonas selber die Geschichte, die jetzt in der Zeit zwischen 1957 und 1986 spielt. Es ist die Ära von "Papa Doc" und "Baby Doc", von François Duvalier und seinem Sohn Jean-Claude. Die Bevölkerung wird diktatorisch regiert und von den "Tontons Macoutes", einer Geheimpolizei die Angst und Gewalt verbreitet, drangsaliert.

Von nun an ist der die Handlung bestimmende Grundton das nächtliche Hämmern, mit denen die fluchtbereiten Haitianer ihre kümmerlichen Boote zusammennageln, um das Land zu verlassen. Die erste scheue Liebe von Jonas zu einer Frau zerbricht daran, dass sie ebenfalls das Land verlässt, um in den USA zu studieren.

Granny, die in der Schilderung von Jonas immer noch einen wegweisenden Teil einnimmt, weigert sich konsequent Haiti zu verlassen. Um sie herum wird es einsam, denn viele ihrer Freunde haben ihrem Land den Rücken gekehrt. Erst nach ihrem Tod gelingt es Jonas sich von ihrem starken Einfluss zu befreien. Auch er plant jetzt, seine Heimat zu verlassen.

Jenseits der See ist ein erschütternder Roman zu einem Thema, das sich nicht allein auf Haiti beschränkt. Louis-Philippe Dalembert gelingt es stilistisch hervorragend, er verzichtet auf eine konkrete Nennung von Namen und Orten, die globalen Konsequenzen der Zerstörung humaner und gesellschaftlicher Werte zu beschreiben. Zwischen den einzelnen Kapiteln eingeflochtene Rückblenden ohne Beachtung konventioneller Schreibweise, die zurückgehen zu den ersten Begegnungen mit der "Zivilisation" in Form von Versklavung und Verschiffung, einem fremdbestimmten und gewalttätigen Exodus, weisen eine direkte Verbindung auf zu dem massenhaften Aufbruch verzweifelter Menschen in ein vermeintlich besseres Leben fern von der haitianischen Heimat.

Es ist dem Litradukt-Verlag und dessen Programm, das weit abseits des literarischen Mainstreams liegt, zu verdanken, dass Autoren wie Louis-Philippe Dalembert auch in Deutschland bekannt werden.




Meine Bewertung:Bewertung

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