Buchkritik -- Andrew Miller -- Friedhof der Unschuldigen

Umschlagfoto, Friedhof der Unschuldigen , InKulturA Frankreich im Jahr 1785. Die kommende Revolution wirft bereits ihre Schatten voraus. Die Not der Bevölkerung, die Armut auch der bürgerlichen Kreise verunsichern die Pariser Gesellschaft. Das alte Regime ist vordergründig noch am Wirken, das neue, von dem noch niemand weiß, wie es aussehen wird, kündigt sich jedoch bereits an.

Der junge Ingenieur Jean-Baptiste Baratte erhält von einem Minister aus dem Kabinett Königs Louis XVI. dem Auftrag, einen Friedhof zu beseitigen. Dieser "Friedhof der Unschuldigen" belastet das Viertel mit seinen Ausdünstungen und wird somit zu einem gesundheitlichen Problem. Baratte macht sich daran, diesen Auftrag zu erfüllen.

Trotz großer Selbstzweifel entwirft er einen Plan, der vom Beauftragten des Ministers positiv bewertet wird und die Arbeit beginnt. Doch der Ingenieur hat nicht mit dem passiven Widerstand der Bewohner des Viertels gerechnet, für die der Friedhof längst zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Lebens geworden ist.

Andrew Miller hat mit "Friedhof der Unschuldigen" einen historischen Roman veröffentlicht, der die vorrevolutionäre Zeit Frankreichs genau seziert. Gelähmt vom gesellschaftlichen und politischen Stillstand, halten die Einwohner an Bewährten fest, auch wenn es, Miller beschreibt es mit drastischen Worten, ihr Lebensumfeld in eine stinkende und kontaminierende Wolke aus Verwesung und Krankheit verwandelt, die ihren Weg sogar in die Nahrungsmittel findet. Das alte, bereits abgestorbene, ist anscheinend immer noch besser, als ein ungewisses Neues.

Es geschehen merkwürdige Dinge und Baratte ist mehr als einmal dabei, dem Minister seine Kündigung zu schicken. Auch er, der die Welt verbessern wollende Ingenieur, gelangt durch die Macht des immer schon so gewesen an seine Grenzen und holt sich zur Unterstützung seines Auftrags einen Jugendfreund aus seinen Zeiten als Bergwerksingenieur. Doch auch auf diese Freundschaft wirkt sich der Beseitigung des Friedhofs negativ aus und es kommt zu einer menschlichen Katastrophe.

Atmosphärisch dicht und mit präzisen historischer Kenntnissen erzählt Miller von Barattes Bemühungen, den Auftrag zur Zufriedenheit des Ministers zu erfüllen. Es ist ein Roman über die Macht der Vergangenheit und die Wirrnisse der neuen, der unbekannten Zukunft. Der Ingenieur merkt schnell, dass sein naturwissenschaftliches Wissen und sein bislang materialistisches Weltbild an eine Grenze gestoßen ist. Der Mensch ist, so muss Baratte konstatieren, eben keine Maschine, die nach einem festgelegten Schema, einer inneren Konditionierung funktioniert, und so ist es folgerichtig, dass er, wieder einmal drastisch von Miller beschrieben, im wahrsten Sinn auf die materialistische Philosophie des Julien Offray de La Mettrie scheißt.

Noch regiert das alte Regime und Ludwigs XVI. sitzt vermeintlich fest auf seinem Thron. Doch es gärt um ihn herum, nicht nur auf dem "Friedhof der Unschuldigen". Auch das einst prunkvolle Versailles, wo Jean-Baptiste Baratte seinen Auftrag aus den Händen des Ministers erhält, ist dabei zu verfallen. Chaos und Kälte verwandeln die noch vor kurzem prunkvollen Gemächer in Stätten präanarchistischen Verhaltens und der Hof Ludwigs XVI. und die Politik scheinen in Schockstarre gefangen zu sein.

Es ist die Atmosphäre einer angekündigten, aber Angst erweckenden Veränderung, die Andrew Miller so gekonnt mit seinem Roman einfängt. Mit drastischer Diktion erfährt der Leser die Verwerfungen, die enstehen, wenn Neues gegen Altes kämpft. Dass diese Kämpfe auch in einem Individuum toben, erfährt auch der Ingenieur Jean-Baptiste Baratte.




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