Buchkritik -- Heike Wiese -- Kiezdeutsch - Ein neuer Dialekt entsteht

Umschlagfoto  -- Heike Wiese  --  Kiezdeutsch, InKulturA Seit Jahren ist in Deutschland eine bedenkliche Tendenz zu beobachten. Wenn soziale Missstände nicht mehr zu ignorieren sind und wenn fragwürdige Entwicklungen, die aufgrund politischer Ignoranz längst den "Point of no Return" überschritten haben, drohen den inneren Frieden und die gesellschaftliche Homogenität zu sprengen, dann wird entweder eine "Konferenz" einberufen, die in der Regel den Status Quo als neue gesellschaftliche Realität definiert oder ein sozialwissenschaftliches Institut zaubert ein Gefälligkeitsgutachten aus der Tasche, das ebenfalls den gesellschaftlichen Ist-Zustand als neue Normalität determiniert.

Letzteres ist bei der Untersuchung von Heike Wiese, Professorin an der Universität Potsdam für Deutsche Sprache der Gegenwart und, wer hätte das angesichts ihres Buches "Kiezdeutsch - Ein neuer Dialekt entsteht" nicht vermutet, gleichzeitig die Sprecherin des dortigen Zentrums für "Sprache, Variation und Migration".

Die Kernaussage dieser Untersuchung besteht in der These, dass die mangelnde Fähigkeit sich der Deutschen Sprache als Mittel und Ausdruck der gelungenen Integration zu bemächtigen, bei der hier in Deutschland lebenden dritten Generation von Ausländern kein Ausdruck fehlender intellektueller Fähigkeiten darstellt, sondern, im Gegenteil, der Beweis einer kreativen Kompetenz dieser Gruppe von Migranten ist.

Natürlich, und soweit ist Heike Wiese Recht zu geben, ist auch und gerade eine Sprache in ständiger Entwicklung begriffen. Dies geschieht organisch und den regionalen Umständen geschuldet. Daraus entwickeln sich lokale Dialekte und Abweichungen von der "Amtssprache" - Nur zur Erinnerung, die "Amtssprache dieses Landes ist immer noch Deutsch. Aus der traurigen Tatsache, dass große Teile der in der Regel moslemischen Einwanderer wenig Kompetenzen in Bezug auf die Beherrschung der Deutschen Sprache besitzen, resultierte - wenn auch nicht gern offiziell preisgegeben wird - die Sprachreform, die im Wesentlichen auf eine Initiative aus den 80er Jahren zurückzuführen ist, die das Ziel hatte, den in Deutschland lebenden Ausländern das Erlernen der Deutschen Sprache zu erleichtern. Die unter politischem Druck durchgesetzten "Rechtschreibreformen", von denen dieses Land heimgesucht wurde, sind die Nachwehen dieser Intention. Wie groß war der Katzenjammer, als offizielle Stellen - Kindergärten, Schulen und Ausbildungsbetriebe - Alarm schlugen und auf fehlende Sprachkenntnisse von Ausländern hinwiesen.

Heike Wiese, eine ganz in der Denktradition, dass es das, was nicht wahr sein darf, auch nicht geben kann, stehende Wissenschaftlerin gibt jetzt Entwarnung. In ihrem Buch "Kiezdeutsch - Ein neuer Dialekt entsteht" will sie nachweisen, dass dieser, in der Sprachwelt der Professorin, Mangel in Wirklichkeit der sprachliche Ausdruck eines multiethnischen Gemeinwesens ist, der sich durch Kreativität und Einfallsreichtum auszeichnet. Nun kann man wahrlich darüber streiten, wo der Grund für mangelnde Sprachkenntnisse liegen könnte, in der gesellschaftlichen Realität ist dieser Mangel jedenfalls ein Grund für den von Migrantenverbänden den Autochthonen gegenüber gern geäußerten Vorwurf der Ausgrenzung. Das ist zum Glück, Heike Wiese wird nicht müde das gebetsmühlenhaft zu wiederholen, ein Irrtum.

Wie haben es, nach den Aussagen der Autorin, mit teilweise erstaunlich polyglotten Jugendlichen zu tun, die außer Kiezdeutsch noch mehrere Sprachen beherrschen (sic). So lässt uns Heike Wiese auf Seite 36 wissen
"Viele Sprecher/innen von Kiezdeutsch beherrschen neben dem Deutschen noch eine oder sogar mehrere Sprachen fließend. So mag jemand, der Kiezdeutsch mit seinen Freunden spricht, zum Beispiel kurdisch mit seiner Großmutter sprechen, arabisch mit dem Großvater und der Tante, deutsch mit dem Vater und kurdisch und arabisch mit der Mutter. Ein anderer Jugendlicher, der Kiezdeutsch spricht, mag deutscher Herkunft sein und zu Hause nur deutsch sprechen, aber von seinen Freuden oder den Eltern der Freunde etwas Türkisch gelernt haben."
Da mag man doch die Frage stellen, ob diese sprachgewandten Jugendlichen denn auch die Fähigkeit besitzen, mehrere Seiten dieses Buches mit fehlerloser deutscher Sprache zu lesen und sie im Anschluss daran, ebenfalls in tadellosem Deutsch, inhaltlich korrekt wiederzugeben.

Wenn das wider Erwarten gelingen würde, dann könnte ich die These, dass es sich bei Kiezdeutsch um einen neuen (Jugend)Dialekt handelt, ohne Widerspruch akzeptieren. Da jedoch die Wahrscheinlichkeit sowohl des korrekten Vorlesens als auch der korrekten inhaltlichen Wiedergabe sehr gering ist, muss die These der Autorin vom neuen Kiezdeutsch Dialekt abgelehnt werden. Wer Sätze wie "Heute muss isch wieder Solarium gehen" (S.9) oder "Manschmal, wenn isch tanze, isch geh an Spiegel, isch mach so." (S.12) als neue Form der sprachlichen Mitteilung versteht, der hat insofern Recht, dass das wohl die Ausdrucksform einer sprachunkundigen Migrantengeneration darstellt, von einem Dialekt, der sich, wie auch Heike Wiese es nachweisen will, immer an der Hochsprache orientiert, ist das doch weit entfernt.

Nun sind ja gerade die Sozialwissenschaften immer auch Ausdruck des herrschenden politischen Mainstreams und so wundert es nicht, wenn die Autorin Kiezdeutsch als Schulfach empfiehlt. "Die Beschäftigung mit Kiezdeutsch kann hier zum einen als Anlass zur Reflexion über Sprache dienen." "Nicht zuletzt können sie sich dadurch auch ihrer eigenen sprachlichen Ressourcen stärker bewusst werden und lernen, mehrsprachige Kompetenzen als Bildungsgut zu schätzen." (S. 239)

Wenn mehrsprachige Kompetenzen wirklich vorliegen würden, dann, und nur dann wäre Kiezdeutsch eine originelle Variante von Jugendsprache. Da das jedoch nicht der Fall ist - auch wenn es der Tenor von so manchem wissenschaftlichen Gefälligkeitsgutachten ist - bleibt die Tatsache bestehen, dass Kiezdeutsch wohl doch eher der Ausdruck von Halbsprachlichkeit ist.

Eine "wissenschaftliche" Untersuchung, in der zum Beispiel von einer blonden Frau die Rede ist, die ihrem Begleiter ihre handwerklichen Fähigkeiten schildert und diese Unterhaltung mit den Worten "Icke, lan - crazy!" (S. 43) beendet und der von Heike Wiese daraufhin indirekt eine dreisprachliche Kompetenz zugesprochen wird, die hat so viel Wert wie die Aussage, dass die dunkle Seite des Mondes aus Käse besteht.

Wer sich durch die fast 300 Seiten dieses Buches durchgequält hat, wird mit dem fragwürdigen Fazit des Buches belohnt, dass Kiezdeutsch eine Bereicherung darstellt und dass die "massiven Vorbehalte gegenüber Kiezdeutsch [...] keine sachliche Grundlage haben." (S. 231). Wenn das wirklich der Fall wäre, dann stellt sich allerdings die Frage, aus welchem Grund es diesen jungen und kreativen Sprachgenies nicht gelingt, sich dauerhaft und erfolgreich im der Berufswelt dieses Landes zu etablieren. Entschuldigung, ich habe glatt vergessen, dass das ja an den Vorurteilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft liegt.

Vielleicht veröffentlicht bald ein Kollege von Heike Wiese eine Untersuchung, die ergeben hat, dass man auch keine deutschen Sprachkenntnisse mehr braucht, schließlich reicht ja auch wildes gestikulieren.




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