Buchkritik -- James Noël -- Was für ein Wunder

Umschlagfoto, Buchkritik, James Noël, Was für ein Wunder, InKulturA Am 12. Januar 2010 wurde Haiti von einem schweren Erdbeben erschüttert. Die Zahl der Opfer wurde, da aufgrund der chaotischen Verhältnisse belastbare Zahlen nicht zu ermitteln waren, auf über 300.000 geschätzt. Die anlaufenden Hilfsmaßnahmen durch die internationale Gemeinschaft und zahlreiche NGOs machten den südwestlichen Inselteil von Hispaniola zu einem Tummelplatz oft gegensätzlicher Bemühungen zur Bewältigung der Krise und dem Wiederaufbau des Landes.

James Noël lässt in seinem ersten Roman den Dichter Bernard, einen Überlebenden der Katastrophe, seine Version der Ereignisse schildern. Der Bogen, den seine Impressionen schlagen, ist weit gespannt. Er tänzelt zwischen Liebe und Irrsinn. Schlängelt sich mit Zynismus und Hilflosigkeit durch seinen weniger als Roman, vielmehr als Großgedicht zu lesendes Buch und lässt sein Lesepublikum angesichts der oft an den Grenzen zwischen Slapstick und phrasierter Verzweiflung taumelnden Diktion mit der Frage zurück, ob es denn erlaubt sei, auf eine Katastrophe, wie in Haiti geschehen, abseits von Betroffenheitsfloskeln und Worthülsen mit dem Werkzeug verbaler Ironie zu reagieren, um die Absurdität des Ereignisses jenseits des Schreckens zu reflektieren.

„Was für ein Wunder“ stellt keine Chronik der Katastrophe dar. Nüchterne Zahlen und Fakten sind nicht Noëls Intentionen. Statistiken überlässt er mit zahlreichen Seitenhieben der internationalen Politik und den Hilfsorganisationen, deren selbstverliebte Darsteller weniger der notleidenden Bevölkerung helfen, sondern all zu oft die Finanzströme der internationalen Gebergemeinschaft ihren eigenen Organisationen zuführen.

Die Sequenzen und Augenblicksnotizen des Großgedichts sind, ähnlich Noëls „Schmetterlingsflügelschlag“ Puzzleteile, die doch niemals das Gesamtbild ergeben können, weil jedes tragische Schicksal letztendlich inkommensurabel ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund flüchtet er in die Arme Amores, die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation – hier trägt Noël doch etwas dick auf –, die weniger für die große Liebe steht, als vielmehr für die Kongruenz körperlicher Anziehungskräfte und die Schwingungen sexueller Attraktion, die für kurze Augenblicke Versöhnung mit dem unvorstellbaren Horror der Katastrophe möglich scheinen lässt.

Doch immer wieder rekurriert Bernard auf die aktuelle Situation, setzt sie in Beziehung zur wechselvollen, für die Mehrheit der Bürger Haitis immer unheilvollen politischen Geschichte. James Noël benutzt sie als Blaupause für seine Kritik am System Haiti, die in jeder ironischen Sentenz, jeder sarkastischen Schilderung und jeder noch so zynischen Bemerkung steckt.

Das beantwortet auch die Frage, ob man angesichts des Leids und der Zerstörung, die das Erdbeben angerichtet hat, mit, wie es der Autor unternimmt, oft schnoddriger Ausdrucksweise sich diesem Thema nähern kann.

Natürlich, denn gerade durch die Verkürzung auf Subjektives gelingt es Noël besser, als es in vielen Reportagen zu lesen war und ist, dem oft namen- und gesichtslosen Schrecken, der weit abseits materieller Zerstörungen sein viel destruktiveres Unwesen treibt, Ausdruck zu verleihen.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 23. Mai 2020