Buchkritik -- Robert Menasse -- Die Hauptstadt

Umschlagfoto, Buchkritik, Robert Menasse, Die Hauptstadt, InKulturA Kein Schwein zu sehen? Doch, ein Sus scrofa domesticus rennt aufgeregt durch Brüssel und sorgt nicht nur bei Touristen für Verwirrung. Dieser, im wahrsten Sinn Running Gag, inspiriert zwar die Besucher Brüssels in ihren Reiseführern zu blättern, um irgendwelche, ihnen bei deren oberflächlicher Lektüre wohl entgangenen Hinweise auf diese, wahrscheinlich neue Attraktion der Hauptstadt des Königreichs Belgien zu finden. Leider stehen dem geneigten Leser diese touristischen Hilfsmittel nicht zur Verfügung, also muss er, allein auf sich gestellt, seinen Teil dazu denken – und kommt wohl, wie der Rezensent, zu keinem logisch-greifbaren Ergebnis.

Wie dem auch sein, hier im Brüssel, dem Hauptsitz der Europäischen Union und der Nato, lässt Robert Menasse seine Figuren, mal scheppernd wie Billardkugeln, mal nahezu unbemerkt und oft mit tragikomischer Variante neben- und aneinander vorbeiredend, einige schwer an der Last der Vergangenheit tragend – von Menasse übrigens hervorragend erzählt – und einige, quasi als zweiter Running Gag, immer auf dem Sprung zum Wohl und Wirken ihrer Vorgesetzten, aufeinander prallen.

Es hätte alles so schön funktionieren können, das Jubilee Project zum fünfzigjährigen Bestehen der EU-Kommission. Die nämlich leidet, glaubt man denn Umfragen unter den Bürgern europäischer Länder, unter einem Negativimage, das zu verbessern die Aufgabe von Fenia Xenopoulou, einer zypriotischen Griechin und karrierebewussten Frau, wird. Die Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission sieht darin eine Chance, ihre ungeliebte, weil einflusslose Position im Bereich Kultur - wer nimmt ein Kulturressort schon ernst - durch ein erfolgreich verlaufendes Projekt in Richtung höherer Aufgaben zu verlassen.

Was folgt, sind die üblichen Palastintrigen einer unüberschaubaren Institution, die sich anmaßt, Entscheidungen im Namen der europäischen Bürger zu treffen, für die die Bezeichnung angewandter Schwachsinn noch eine charmante Untertreibung ist. Stichwort "Brennverhalten von Unterwäsche gemäß EU-Richtlinie." Nachzulesen bei Menasse. Kurzum, das Projekt Jubelfeier ist, kaum werden die Einzelheiten bekannt, bereits dem Tod geweiht und wird ausgerechnet vom Jubilar, also von höchster bzw. zweithöchster Stelle - die hat ja immer und überall die wirklichen Fäden in der Hand - torpediert.

Robert Menasse nimmt sich in seinem Roman viel vor. Er ist eine Gemengelage aus politisch-kirchlicher Verschwörung, Zustandsbeschreibung bürokratischer Wirren innerhalb der EU und Vergangenheitsbewältigung. Die Europäische Idee "Nie wieder Auschwitz, nie wieder Rassismus!", so der Autor, hat in dieser Form keine Zukunft. Nationale und damit wirtschaftliche Interessen treten stets in den Vordergrund. Lobbyismus, wechselnde Koalitionen und Regulierungswahn stehen den ursprünglichen Zielen der Europäischen Union entgegen.

Gerade wegen seiner mehr oder weniger verknüpften Handlungsstränge und seiner Figuren, die, jede für sich, einsam funktionierend, jedoch seltsam unbeteiligt agierend, bleibt nach der Lektüre ein Gefühl der Ratlosigkeit zurück. Die Tatsache, dass der Roman "Die Hauptstadt" mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnet wurde, beweist dann auch, dass Robert Menasse seine Finger zwar in ein paar Wunden des angewandten europäischen Wahnsinns legt, im Grund jedoch niemand weh tut. Diese Schonung haben ausgerechnet die verkrusteten, bürokratischen und die Bürger verachtenden Institutionen der EU nicht verdient.




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Veröffentlicht am 18. Oktober 2017