Buchkritik -- Aziz Nesin -- Meine Liebe ist meine Religion

Umschlagfoto, Buchkritik, Aziz Nesin,  Meine Liebe ist meine Religion, InKulturA 1995 verstarb der türkische Satiriker und Schriftsteller Aziz Nesin. Vorwiegend als scharfzüngiger Kommentator tagespolitischer Ereignisse bekannt, zeigt die von Klaus Liebe-Harkort zusammengestellte und von Alibri Verlag herausgegebene Anthologie von Prosastücken Nesin ebenfalls als Schriftsteller von Rang. Unter dem Titel "Meine Liebe ist meine Religion" gibt der Band einen Überblick über das thematisch weit angelegte Schaffen des Autors.

Die Kurzgeschichten kreisen, wenn auch oft, so doch nicht immer, um das Thema individuelle Einsamkeit, Liebe und Tod. Es sind, erzählt meist in Ich-Form, Rückblenden nach einem Scheitern und die Frage nach dessen Grund. Ein bereits längst vergangenes Erlebnis, wird, in der Gegenwart wieder ins Gedächtnis Gedächtnis zurückgerufen, zum Krisenauslöser einer Ehe. Schönheit, verkörpert in einer jungen Frau, wird ausschließlich in der Vorstellung eines einst in sie verliebten Mannes konserviert, die angesichts eines erneuten, viele Jahre später stattfindenden Treffens in die Katastrophe einer sprachlosen Enttäuschung mündet.

Es sind Geschichten, die die Tragik einer Liebe zeigen, die wegen unüberwindbarer Gegensätze zum Scheitern verurteilt ist oder aufgrund des Aufeinandertreffens von Illusion und Realität misslingt. Aziz Nesin erzählt abseits aller Klischees über die Trauer angesichts der verweigerten Erfüllung. Diese, wenn sie erlebt werden könnte, stellt für Nesin eine so seltene Variante individueller Glücksuche dar, dass sie in keiner seiner Geschichten Realität wird. Und trotzdem sind seine Erzählungen kein Ausdruck von Resignation, sondern sie stellen schlichtweg das Scheitern des zwischenmenschlichen als Konstante des Individuums fest.

Nezins scharfem Blick entgingen die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen keineswegs und so ist auch Umweltschutz (Der Schmerz der Eiche) und staatliche Gewalt und Willkür (Einführung in die Folterwissenschaft: Du hast Angst) ein Thema der in diesem Band veröffentlichten Erzählungen.

Allen gemein ist der scharfe und unbestechliche Blick, den Aziz Nesin auf sich und die Gesellschaft hat. Weit davon entfernt, sich als moralinsaurer Tugendwächter zu gerieren, weiß er um die Schwächen und Fehler des Individuums. Er konstruiert ihm daraus keinen Vorwurf, denn das Leben ist nun einmal wie es ist. Jeder ist gefangen in seiner eigenen Existenz, die Verstrickungen aus Ehrgeiz, Vorurteilen, falschen Selbsteinschätzungen und Illusionen bereithält. Darüber schreibt Nesin, der für seine Figuren immer ein Höchstmaß an Sympathie empfindet, mit dem Wissen eines sich den menschlich, all zu menschlichen Fehlern und Schwächen seiner Spezies stets bewußten Humanisten.

Aus diesem Grund ist die vom Rezensenten favorisierte Kurzgeschichte die des Wolfes, "der sich verirrte." Das wilde Tier begibt sich entgegen aller seiner Triebe in die Stadt und damit in die Nähe der Menschen. Er wird von einem Mann, der ihn fälschlicherweise für einen Hund hält, in Obhut genommen. Wie auch der Wolf träumt sein neues Herrchen stets von seiner Heimat, die jedoch nur noch eine schwache Reminiszenz darstellt. Je länger der Wolf, der immer betont, in seine Heimat, in die Wälder, zurückkehren zu wollen, bei den Menschen lebt, desto mehr gewöhnt er sich an die Annehmlichkeiten, die ihm dort geboten werden, bis auch dessen stete Versicherung, bald in seine Heimat zurückzukehren nur noch ein Reflex auf längst Vergangenes darstellt.

Könnte man die Verführbarkeit des Individuums besser beschreiben, als es Aziz Nesin mit dieser Geschichte gemacht hat?




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Veröffentlicht am 10. Oktober 2016