Buchkritik -- Albrecht von Müller -- Die Selbstentfaltung der Welt

Umschlagfoto, Buchkritik, Albrecht von Müller, Die Selbstentfaltung der Welt , InKulturA Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, die Welt befindet sich im Umbruch. Gewohnte und bislang scheinbar erfolgreiche Konzepte funktionieren nicht mehr. Das, was einst als Fortschritt gefeiert wurde, ist dabei, sich gegen dessen Nutznießer, gegen uns selber zu wenden. Die technologischen Errungenschaften haben längst unsere Fähigkeiten zum sinnvollen menschlichen Zusammenleben überholt und werden, sollte kein Umdenken stattfinden, die bereits eingetretenen Probleme verschärfen und die bevorstehenden forcieren.

Wie kann es gelingen, aus dieser selbst verschuldeten Falle zu geraten, ohne gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Verwerfungen zu riskieren? Kann Politik, können Ideologien bei den anstehenden Veränderungen helfen? Nein, meint Albrecht von Müller, nur ein radikaler Wandel des Verständnisses unserer Verwobenheit mit der Zeit, von der wir irrigerweise der Meinung sind, ihrer Flüchtigkeit durch, so der Autor, „Macht. Besitz und Kontrolle“ zu entgehen, sie also in Form sich mehr und mehr als selbstzerstörerisch und verzweifelt nutzlos erweisenden Methoden zu greifen und sie dabei doch zerrinnen lassen, wie der vom Wind verwehte Sand auf einer Handfläche, wird das bewerkstelligen können.

Unsere Welt hat einen Grad von Komplexität erreicht, die, initiiert von der diesem Prozess innewohnenden Selbstentfaltung, sowohl durch die Entwicklung der Materie als auch des Lebens und des sich seiner selbst bewusst werdenden menschlichen Geistes die heutige Zivilisation erst möglich gemacht hat.

Doch die moderne Welt des 20. und jungen 21. Jahrhunderts ist, um es lapidar auszudrücken, falsch abgebogen und das Resultat ist „...das extreme Missverhältnis zwischen einer riesigen instrumentellen Machtfülle und einer minimal ausgeprägten gesellschaftlichen und politischen Verantwortungs- und Gestaltungsfähigkeit […] im Hinblick auf das schon voll entfaltete globale Wechselwirkungsgefüge von sozialen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungen.“

Wie diesem circulus vitiosus entkommen? Albrecht von Müllers Antwort auf die Frage ist bestechend einfach und gleichzeitig von erheblicher Tragweite. Sie zieht einen großen Bogen zwischen den (noch) rätselhaft-faszinierenden Aussagen der Quantentheorie und deren (nicht nur) philosophischen Konsequenzen, die, bei Umsetzung, eben diese sozialen, ökonomischen und ökologischen Verhältnisse umgestalten würden.

Auf den Punkt gebracht beschäftigt sich die klassische Physik mit Ursache und Wirkung, die Quantenphysik dagegen – der Autor zieht aufgrund dessen weitreichende gesellschaftliche Schlüsse – mit Möglichkeitsräumen und Wahrscheinlichkeiten.

Nicht die Reduzierung der Zeit auf eine sequenzielle Struktur und damit die verzweifelte Gier nach einem, wie der Autor es nennt, „anklammerndem Festhalten“ und dessen Manifestationen „Macht. Besitz und Kontrolle“, sondern ihre Wahrnehmung als eine sich immer wieder darbietende Selbstentfaltung, die monokausalen Denkstrukturen entgegensteht, ermöglicht die Bewältigung anstehender Probleme.

Doch, und darin liegt die große Stärke dieses Buches, Albrecht von Müller belässt es nicht mit einem theoretisch-philosophischen Exkurs, sondern stellt in den folgenden weitaus umfangreicheren Kapiteln an konkreten Beispielen dar, welche Möglichkeiten es gäbe, um ein Umdenken in Gang setzen zu können.

„Die Selbstentfaltung der Welt“ ist „eine Einladung Zeit und Wirklichkeit neu zu denken“. Diese sollte auch angenommen werden.




Veröffentlicht am 29. Oktober 2020