Buchkritik -- Lyonel Trouillot -- Jahrestag

Umschlagfoto  -- Lyonel Trouillot  --  Jahrestag Haiti, nahezu verschwunden von Radar öffentlicher Wahrnehmung, hat einen festen Platz im Verlagsprogramm der litradukt Literatureditionen. Der politisch und wirtschaftlich geschundene westliche Teil der Karibikinsel Hispaniola ist geradezu ein Negativbeispiel für den Weg eines Staates zu einem failed state, dem in den letzten zehn Jahren über drei Millionen Haitianer den Rücken gekehrt haben und ausgewandert sind.

Der Roman "Jahrestag" von Lyonel Trouillot zeigt ein dunkles Bild der haitianischen Gegenwart, resultierend aus der nicht weniger düsteren jüngeren Vergangenheit. Es ist das Jahr 2004 und der Student Lucien ist auf dem Weg zu einer Demonstration. Der Autor schildert die kurze Zeitspanne von wenigen Stunden, in denen Lucien im Geist Zwiegespräche mit Personen führt, die ihn während seines Lebens begegnet sind und die auf ihn eine großen Einfluss ausgeübt haben.

Da ist sein jüngerer Bruder, der sich entschlossen hat, als Verbrecher zu leben. Da ist seine Mutter, die weit entfernt von der Stadt lebt und ihr Leben erblindet und fern von ihren Söhnen verbringt. Da ist der Ladenbesitzer, der von einer längst vergangenen Epoche träumt und den die oftmals gewalttätige Gegenwart zu einer apathischen Haltung gegenüber den herrschenden Umständen zwingt.

Mit feinem Gespür für die seismischen, die unterschwellig wirkenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte beschreibt Lyonel Trouillot die Zerrissenheit dieses Staates. Lucien will an einer Demonstration teilnehmen, über deren direktes Ziel er nur wage Auskünfte geben wird. Sein Bruder hat sich längst mit dem System arrangiert und wird zum bezahlten Büttel der Machthaber. Von den Älteren, vom Ladenbesitzer, ist keine Hilfe zu erwarten, trauern sie doch der Vergangenheit wehmütig hinterher.

"Jahrestag" entwirft ein pessimistisches Bild der haitianischen Gegenwart. Die gesellschaftliche Zerrissenheit, der Kampf jedes Einzelnen uns nackte Überleben und die latent vorhandene Angst vor Repressionen und polizeilicher Willkür verhindern jede politische Veränderung.




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