Leseprobe -- Pascal Bruckner -- Ich leide, also bin ich

Zu lieben bedeutet, aus freien Stücken dem anderen volle Macht über uns zu geben, sich von seinen Launen abhängig zu machen und sich unter das Joch eines ebenso unberechenbaren wie bezaubernden Despoten zu begeben. Mit einem Wort, einer einfachen Geste kann mich die Geliebte in den Himmel erheben oder in den Staub werfen. Sich an den oder die zu ketten, über den man vor lauter Verehrung kein Urteil mehr hat, bedeutet, sich in einen Zustand der Verletzlichkeit zu begeben und nackt, wehrlos und gefangen zu sein. Der geliebte Mensch wird in dem Maße, in dem sich die Beziehung vertieft, nicht nur immer fremder, sondern stellt vor allem gleichzeitig die Möglichkeit zur Ekstase und zur Zerrüttung dar. Ihm zuzuhören, ihn zu verehren und auf ihn zu warten bedeutet, sich einem ausweglosen Urteil zu beugen: Entweder werde ich angenommen oder weggestoßen. Von der Person, die uns am teuersten ist, haben wir also das Schlimmste zu befürchten: Ihr Verlust oder ihre Flucht bedeutet die Verstümmelung eines wesentlichen Teils des eigenen Ich. Die Liebe erlöst uns von der Sünde unseres Daseins. Wenn sie scheitert, bürdet sie uns die Willkür dieses Lebens auf. Das Unerträgliche am Liebesleid besteht darin, dafür bestraft zu werden, für den anderen durch die Liebe alles Menschenmögliche getan haben zu wollen; es ist keine Bestrafung für einen Fehler, son-dern für eine abgewiesene Gabe. Das Nein, das den zurückgestoßenen Liebenden entgegenschallt, ist unwiderruflich. Sie können niemanden verklagen und sind mit ihrem Verlassensein allein.