Leseprobe -- Ernst Nolte -- Der Faschismus in seiner Epoche

Keine Voraussage jedoch hat sich im Laufe eines Jahrhunderts als un­richtiger erwiesen, wenn »Proletariat« als eine bestimmte, vorfindbare, durch die Leistung von Handarbeit charakterisierte Gruppe dem ganzen »Rest« der Gesellschaft gegenübergestellt wird. Nicht ein einziges Mal in den 100 Jahren nach dem Kommunistischen Manifest ist es dem so verstandenen Proletariat gelungen, »das« Bürger­tum zu überwinden. Und es konnte ihm auch nicht gelingen. Denn man darf »Bürgertum« nicht mit einer seiner Erscheinungsformen gleichsetzen, derjenigen etwa, die Thomas Mann beschrieb. Der Begriff der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise muß so weit gefaßt werden, daß er jede Art von rationalisierter und kollektivierter Produktion umfaßt, die durch vorwiegendes Privateigentum einer unflxierten Anzahl von Menschen an den Produktionsmitteln gekennzeichnet ist. Sie schließt im Prinzip weder eine gewisse Planung aus noch völlige Eigentumslosigkeit irgendeiner Gruppe ein. Das marxistisch verstandene Proletariat, dessen Aufstieg eine Zeitlang mit dem Aufstieg der Gesellschaft selbst identisch zu sein scheint, tritt zu dieser Entwicklung wieder in ein negatives Verhältnis, sobald ein bestimmtes und relativ hohes Maß an technischer und intellektueller Ar­beit mitten im Alltag der Produktion notwendig wird, deren Vertreter mit den Marxschen Begriffen nicht mehr erfaßt werden können und die von der gesellschaftlichen Bewegung in immer größerer Zahl hervorgebracht werden.
Die bürgerliche Gesellschaft wird auch in ihrer zufälligsten und unvollkommensten nationalen Besonderheit um so unzerstörbarer, je wei­ter sie den Ausgangspunkt dieser Entwicklung überschritten hat, sofern das Proletariat in seiner Isolierung verharrt. Die »proletarischen« Revolutionen in Rußland und China sind kein Einwand gegen diese Regel. Die technischen und intellektuellen Kader der industriellen Gesellschaft müssen nicht auf bürgerlich-liberalem Wege her­vorgebracht werden; aber wenn sie einmal da sind, kann das »Proletariat« gegen sie nicht siegen. Wohl ist es möglich, daß eine antifeudale Agrarrevo­lution von einem proletarischen Kern geleitet wird, und die Folgen werden außerordentliche sein, mit Gewißheit freilich nicht dem marxistischen Bilde entsprechen. Es kommt hinzu, daß es nicht ohne weiteres zulässig ist, von einem »proletarischen Kern« zu sprechen. Denn kaum irgendwo ist das Prole­tariat von sich aus auf den Gedanken gekommen, es sei etwas anderes als ein (freilich benachteiligter) Teil der bürgerlichen Gesellschaft; erst bür­gerliche Intellektuelle vermittelten ihm einen kohärenten Glauben an seine Weltmission. Daraus ergibt sich: Die marxistisch verstandene Revolution ist die unmögliche Revolution. Das bedeutet keineswegs die groteske These, daß alles immer bleiben müsse, wie es ist, oder auch nur, daß eine fundamentale Umwälzung nicht möglich sei.