Leseprobe -- Karin Jäckel -- Deutschland frisst seine Kinder

Als 1968er-Abitur- und 1975er-Promotionsjahrgang durchaus noch zur späten Generation derer gehörend‘ die in den Spätsechzigern studierten und rote Wunden ins schwarze Fleisch der Politik schlugen, kenne ich die Wurzeln und das Ziel heutiger Art politischer Frauenpower.

Sie liegen in einem von Flower-Power geprägten Epigonentum ewig gestriger Weltverbesserungsideale. Es sollte ein neuer Mensch geschaffen werden, ein in vollkommener Freiheit jede Ordnungsmacht ablehnendes Superindividuum bei gerechter Verteilung selbst der Atemluft. Wie diese neue Welt eines neuen Menschen erschaffen werden könne und was «gerecht» bedeute, wurde in romantisierender Distanzlosigkeit den Maximen und Forderungen des Sozialismus entnommen.

Aus heutiger Sicht ist es kein Wunder, dass der rote Faden aus den Revolutionsnovellen die Gehirne der Jugend umspann und mehr oder minder verwickelte. Einesteils hatten wir es satt, die Kinder der Kriegstreiber zu sein. Waren es leid, das Erbe derjenigen zu übernehmen, auf die alle Welt mit dem Finger zeigte. Traditionen, überlieferte Werte — die Götterdämmerung der Nazi-Germanen hatte sie alle kalt erwischt. Was galt denn noch? Was bot Halt? Die USA hatten sich mit ihren Menschen verachtenden Aktionen im Vietnamkrieg unglaubwürdig gemacht. Einzig der Sozialismus schien »von Bruder zu Bruder» und «von Schwester zu Schwester» Zukunft zu bieten. Also weg mit der bürgerlichen Ordnung, dem Spießertum der Nazivergangenheit. Weg mit der Rolle des Vaters als Familienoberhaupt. Weg mit dem Frauenbild der Mütter als Hüterinnen der Kleinfamilie und Dienerinnen des Vaters. Weg mit dem Bewahren der jungfräulichen Unschuld für den einen, weg mit der ehelichen Treue und dem Auf-immer-und-ewig vor dem Traualtar. Weg mit der Verklemmtheit und der Angst vor den Folgen der freien Liebe. Weg mit der Kirche und ihrem Frauenhass. Alles sollte neu werden, besser, gerechter. Mit dem Privileg der Jugend, die immer verändern, immer alles besser machen will als die Alten, gaben sich gerade die Engagiertesten, aber auch die Mitläuferinnen und Mitläufer und Trendbewussten der Idee von der Gleichheit aller Klassen hin.
Dass die Bewegung der 68er-Studentenrevolten über die private Motivation jugendlicher Idealistinnen und Idealisten hinaus aus der Ex-DDR finanziert und vorangetrieben wurde, steht mittlerweile zweifelsfrei fest.

Nur zu gern hätte sich der rote Bruder den schwarzen einverleibt. Kein Mittel war dazu zu schlecht, nicht einmal die Schulung militanter Kräfte wie die der späteren RAF-Terroristen in militärischen Camps.

Kurzum, «rot» zu sein, galt als Synonym für idealistisch, modern, gebildet, sozial, gleichberechtigt, frei und zukunftsorientiert. Schlicht für alles, was den neuen Menschen und das neue Zusammenleben jenseits der alten Traditionen und Wertvorstellungen wertvoll machte. Wer nicht «rot» war, wurde als «konservativ-reaktionär» verachtet und als «Kapitalistensau» oder «frauenfeindlich» bekämpft.

Speziell in der Verinnerlichung des gleichmacherischen Gedankenguts der sozialistischen Atheistin Simone de Beauvoir sowie der Welterneuerer Marx, Lenin und Engels schien die Lösung zu liegen. Ihre Literatur wurde von der in meiner Jugend politisch interessierten Bildungselite, aus der sich vornehmlich die gestandenen heutigen Politikerinnen und Politiker von SPD und auch der Neulinge Bündnis 90/ Die Grünen rekrutieren, geradezu verschlungen.

Nächtelang saßen wir aufmüpfige Jugend damals in Gruppen und Grüppchen, diskutierten und agitierten. Die einen friedfertig, die anderen radikal. «Dagegen» waren die meisten, auch wenn sie nicht immer klar wussten, wogegen denn eigentlich im Detail. Und die aus der gebildeten, gut situierten High Society der Mediziner-, Juristen-, Industriemagnaten-, Professoren- und Lehrerfamilien stammenden «Revoluzzerinnen und Revoluzzer», oder diejenigen, deren Großväter und Väter im Zweiten Weltkrieg Rang und Namen und ihre militärische Vergangenheit nie verarbeitet hatten, hielten am leidenschaftlichsten mit.