Leseprobe -- Joachim Koch -- Weder-Noch

So gibt es nichts, was nicht geeignet wäre, als Philosophie gegen andere Philosophien, als Wahrheit gegen andere Wahrheiten anzutreten: von den Nichtrauchern bis zu den Bodybuildern, von den Modegegnern bis zu den Psychogruppen, Motorradfahrer und Italophile, enthusiastische Anhänger von Fußballvereinen und Popbands, Fanclubs und Esoteriker, Szenegänger und Computerfreaks ... sie alle vertreten eine Philosophie, die zur Weltanschauung werden und Gemeinsamkeit konstituieren kann, mit deren Ideen man sich identifizieren und deren Werte man übernehmen kann, und die dennoch nur vorübergehend Bestand haben müssen, denn schon morgen können es andere Werte, kann es eine andere Gruppe sein. Was der Politik kaum mehr gelingt, weil politische Philosophien mehr als verdächtig geworden sind, weil sie das Individuum als Ganzes will, während es an etwas Alleinseligmachendes nicht mehr glaubt, ist auf dem Markt der Subjektivität nun gang und gäbe. Eine Ideologienvielfalt ist an die Stelle einer Ideologie getreten, eine Vielzahl von Ideologiepools an die Stelle einer eindeutigen Ideologiegemeinschaft, eine Ideologiedynamik an die Stelle der Ideologiekritik, und viele haben ihre Fast, noch die rechte Ideologiebalance zu finden. Unter diesem dünnen Lack der united ideologies of the worid, der dem öffentlichen Leben einen so harmonischen und demokratischen, so toleranten und weltoffenen Anschein gibt, fault das soziale Leben allmählich vor sich hin. Nicht nur, weil alles und jedes, wo Menschen füreinander dasein könnten und oft wohl auch sollten, von einem Wust von Dienstleistungen übernommen wird, was vor allem heißt, daß alles und jedes bezahlt werden muß, und wer nicht bezahlen kann, von der Menschlichkeit halt ausgeschlossen ist. Das soziale Leben fault vor allem vor sich hin, weil seine Krankheit, die für jeder mann offensichtlich ist, wie in den feinsten Kreisen höflich übergangen wird. "Nein, wie gesund und erholt Sie aussehen! Ich hätte Sie fast nicht mehr wiedererkannt ..." Was übergangen wird, ist das Leid. Das Leiden jener, die die Geschlagenen sind, ohnehin: Arme und Flüchtlinge, Alte und Arbeitslose, zahllose Kinder, zahllose Ausländer ... Aber auch das Leiden jedes einzelnen.Das Subjektive und das Objektive, der Bruch, den wir erkannten, er ist nicht etwa aufgehoben: Er wurde neu definiert.
Das Objektive ist verschwunden, und die zweite Wirklichkeit ist an seiner Stelle zur Wahrheit geworden. In der Mannigfaltigkeit der Ideologien hat das Individuum sich eingerichtet. Und es glaubt sich selbst. Es glaubt seinen Bedürftigkeiten und Empfindlichkeiten, es hält seinen Unmut für kritisch, hält sein hortendes Raffen für umsichtig, glaubt dem Virtuellen, es nimmt seine Ideologien als Ideale. Es hält sich für einen Macher, raffiniert, cool, gut drauf, witzig ... und merkt noch nicht mal, daß es schon seine Existenz einer Ideologie verdankt. Das Individuum ist eine Erfindung, ist Kreation einer politischen Ideologie, die keine in der Natur des Menschen angelegte Entsprechung kennt. [oder weiß es, denn jeder kennt das Gefühl der Einsamkeit, der Angst, der Verzweiflung, der Ohnmacht...; jeder weiß, daß er auf sich allein gestellt ein armer Hund ist, der ohne die anderen meist bald verreckte. Und was macht er, wenn diese Gefühle ihn befallen? Er geht zum Psychologen, als sei das letzte, was ihn die Wahrheit seiner Existenz spüren läßt, eine persönliche Störung. Spürt er die Krankheit der sozialen Welt, fühlt er sich selbst psychisch krank. Wäre es nicht absurd, man könnte sich schief und krumm lachen. Die Ökonomie hatte daran ursächlich keinen Anteil. Sieht man vom marxistischen Standpunkt, der die Geschichte der bürgerlichen Politik von Anfang an als eine der ökonomischen Logik erachtete, ab, war es ursächlich ein Prozeß gesellschaftlicher Veränderungen. Die Individualisierung entstand im Verlangen nach Emanzipation und Freiheit Ursächlich waren die Ideologiepools der Kultur entnommen. Erst mit der Entwicklung von Marken kam die Ökonomie hier zum Zuge und konnte sie dieses Verlangen nach Idealen an ihr kommerzielles Interesse binden. Seither aber wurde die Koalition von Individuum und Marke zunehmend stabiler. Marken sind zu topoi des Heilsbringenden und Versammlungsorten individueller Sehnsüchte geworden. Das Individuum bejaht die Marke, Individuen eifern Marken nach, Marken gelten als Persönlichkeiten. Das Ideal des Absoluten. Eine absolute Idee, die über die Wirklichkeit hinausweist. Eine zweite und eigentliche Wirklichkeit, an der gemessen die erste nur falsch sein kann. Es war der Ursprung des Christentums. Es war der Traum der Philosophen. Es war die Grundlage des Faschismus. Es war und ist die Virtuosität der Künstler. Es ist zum Geschäft des modernen Managements geworden.