Leseprobe -- Wolfgang Sofsky -- Traktat über die Gewalt

Die Einführung der Guillotine markiert einen historischen Wendepunkt. Sie bedeutet die industrielle Revolution auf dem Gebiet der Todesstrafe. Die Hinrichtung ist mechanisiert; der Henker, der Meister des Schmerzes, ist zum Bediener einer Maschine degradiert. Das demokratische Fallbeil hat das aristokratische Schwert ersetzt, technische Perfektion hat das Handwerk der Marter verdrängt. Das langwierige Schauspiel des Sterbens ist auf den Augenblick des Todes verkürzt. Daher die Enttäuschung der Zuschauer. Sie vermißten die Liturgie der Strafen, die sichtbare Kundgebung der souveränen Gewalt, das heilige Blutfest. Das Revolutionsregime erkannte diesen Bedeutungsverlust sofort und stellte die Guillotine in den Mittelpunkt eines neuen Spektakels, das die neue Technik mit dem alten Ritual verknüpfte. In den folgenden Monaten wurde die banale Maschine zum Exekutivorgan der Schreckensherrschaft. Sie arbeitete störungsfrei, effektiv, mit regelmäßiger Gleichgültigkeit. Die Todeskandidaten wurden, wie in Zeiten des Ancien regime, in öffentlichen Umzügen durch die Stadt zum Schafott geführt. Erhöhte Podien, Mietplätze und Operngläser verbesserten die Sicht. Die abgetrennten Köpfe wurden der Menge zur Schau gestellt. Zügig steigerte man die Zahl der Opfer und beschleunigte den Arbeitstakt der Todesmaschine.
Die letzte Phase der Revolution war eine Zeit mechanischer Egalität. Die Quantität der Toten entschädigte für die verlorene Qualität früherer Grausamkeiten. Dutzende wurden täglich enthauptet. Die Maschine machte keinen Unterschied. Unter dem Fallbeil sind alle Köpfe gleich. Die öffentliche Hinrichtung ist kein Vorrecht der Revolution. Sie ist das sichtbarste Insignium jeder Herrschaft. Was die Folter im geheimen, leistet die Exekution vor aller Augen: die Begründung und Erhaltung politischer und sozialer Ordnung. Umsturz, Verfolgung, Terror und Tyrannis nutzen nur ein Verfahren, das von jeher Gesetz und Homogenität garantiert: die Tötung der Verräter, Verbrecher und Ungläubigen. In der Exekution verbindet sich das Regime der Willkür mit dem Regiment der Ordnung. Kaum eine Gesellschaft, kaum eine Rechtsordnung hat, historisch gesehen, auf die Todesstrafe verzichtet. Hinter dem Gesetz steht der Wegweiser zur Schädelstätte. Neben dem Kodex liegt das Schwert. Bis heute ist die Abschaffung der Todesstrafe, so es denn überhaupt dazu kommt, meist nur eine befristete Episode, kein Anzeichen für einen Fortschritt der Zivilisation. Das Dekret wird spätestens zurückgenommen, wenn erneut der Ausnahmezustand ausgerufen wird oder der Wille der Mehrheit zu entscheiden hat.