Leseprobe -- Rolf Stolz -- Der Deutsche Komplex

Diejenigen, denen es, wie Helmut Schmidt 1960 sagte, mit Erfolg gelungen ist, »aus der ganzen deutschen Geschichte ein Verbrecheralbum zumachen«, verstehen den Katastrophenweg der deutschen Geschichte nicht als einen Prozeß, in dem es bei allen Vorbelastungen durch schlimme Traditionen (»Blut und Eisen«, Obrigkeitsstaat usw.) immer wieder gegenläufige Uberlieferungen, immer wieder Ausbruchs- und Rettungsversuche, Versuche einer Umkehr der Entwicklungslogik gab. Man konstruiert ein idealistisches, entwirklichtes anglo-französisches Modell demokratischer Entwicklung, in dem zum Beispiel weder der Cromwellsche Terror noch die korrupte Bereicherungspolitik des Directoire vorkommen, um die deutsche Vergangenheit daran messen und sie in Bausch und Bogen verwerfen zu können. Man leugnet die Vielschichtigkeit und Individualität der Entwicklungen, man leugnet die Unausweichlichkeit der nationalen Besonderheiten, um jeden Befreiungsgedanken als absonderlich-gemeingefährlichen »Sonderweg« diffamieren zu können. Die Ideologen des »rechten Weges«, die Anpreiser der allgemeinverbindlichen und einzig richtigen Hauptverkehrsstraße vertuschen: Auch wenn ein Volk eine Zeit mit Gewalt oder Bestechung gezwungen werden kann, auf seine historische Eigenart und seine Besonderheiten zu verzichten, so bleibt es doch im Guten wie im Bösen es selbst und nach den Phasen der Selbstvergessenheit und Selbstaufgabe folgt noch stets die Zeit der Selbstbesinnung, der Identitätssuche, des Wiedererwachens und der Wiedergeburt. Und selbst dort, wo Nationen dem Genozid zum Opfer fielen oder in anderen aufgingen, zerfielen und zerfallen diese immer wieder nach einiger Zeit in mehrere differente Gebilde.
Eine Trauer, die nicht aufhört und sich nicht löst in jene Traurigkeit, mit der es sich weiterleben läßt, Trauer, die erstarrt zur statuenhaften Gebärde der Lebensverweigerung und Verzweiflungskälte, verliert sehr bald nicht allein die Fähigkeit zur Selbstüberwindung, sondern auch jede innere Verbindung zu ihren Ursachen und Anlässen. Sie wird zum Selbstzweck und zur Selbsterfüllung. Aus der Trauer über Auschwitz, über den fast vollständigen Untergang des deutschen und europäischen Judentums, über den fast vollständigen Untergang des Deutschtums in Ost- und Südosteuropa, über all die gewaltsam zerschlagene Kultur und Mitmenschlichkeit zwischen Oder und Bug, zwischen Tilsit und Czernowitz ist längst bei vielen ein selbstgefälliges Ritual geworden. Bei ihnen besteht »Trauerarbeit« darin, auf Bestellung und für tagespolitische Zwecke ein gerührtes Gesicht zu machen. Dort, wo innere Gefaßtheit, ein klarer Kopf und Entschlossenheit gefordert wären, werden Lamenti und rückwärtsgewandte Schuldzuweisungen plagiiert. Der Versuch, der Trauer Größe zu geben durch Wiederholung der Klagen, wird zur Aneinanderreihung von leeren Gesten, die als Addition von Nullen immer nur null zum Ergebnis hat. Den Leichenrednern und Klageweibern ist ihr Geplärr zur zweiten Natur geworden. Es sind ja nicht die Schatten des Vergangenen, die als quälende Erinnerung in den Köpfen der Gefolterten Nacht für Nacht wiederkehren, sondern es ist bei den gewerbsmäßigen politischen Vergangenheitsverwertern der Nachhall ihrer eigenen Tiraden, an dem sie sich so wunderbar erbauen können.
Die Deutschen, die so lange den Schock der Katastrophen von 1918 und 1945, der militärischen Niederlagen und Annexionen, der in beiden Fällen ohne revolutionäre Katharsis gebliebenen Umbrüche und sozialen Erschütterungen verdrängt haben, und, als die Verdrängung nachließ, sich in selbstquälerische Wiederholung aller vergangenen Leiden und Verbrechen geflüchtet haben, müssen endlich beginnen, kritisch und rational die Vergangenheit zu verarbeiten, sie als Vergangenheit anzunehmen. Nur diese Bewältigung der Vergangenheit ermöglicht es uns, den unerklärten inneren Krieg in den Köpfen und Herzen zu beendigen und uns neu zu einigen, in einer neuen Identität, in der die einzelnen mit sich und die Deutschen als Volk mit ihrem Land und dessen Geschichte ins reine kommen. Identität heißt gerade nicht ein nebliges Gerede, in dem sich jeder seine eigenen Gefühle und Götter macht. Identität ist die nüchterne Einsicht, daß ein Mensch, wenn er sich dazu entschließt und bekennt, zu seiner Heimat und Nation gehört, mit ihr durch tausend bewußte und unbewußte Fäden verbunden ist, an das Schicksal seines Landes gebunden und für dieses verantwortlich bleibt. Diese Identität ist weder an deutsche Vorfahren gekettet noch an den Umstand, in Deutschland geboren zu sein und einen deutschen Paß zu besitzen. Ein Farbiger aus Ghana, der hier Wurzeln geschlagen hat, obwohl er vielleicht von den Ämtern nur als Ausländer und Staatenloser geduldet wird, kann ein Deutscher sein und ein besserer Deutscher, als ein »Eingeborener«, den außer einem grauen Blatt Papier nichts mit diesem Land verbindet. Es ist eine individuelle Entscheidung, sich aus einer Nation zu verabschieden und real oder zumindest in den Gefühlen umzusiedeln in ein anderes Land oder in das Zwischenreich des heimatlosen Weltbürgers. Nur sollten die Weltbürger und die ehemaligen Deutschen, die keine Deutschen mehr sein wollen, es hinnehmen, daß die Deutschen wie jedes andere Volk innerhalb ihrer Grenzen bestimmen wollen und Unterschiede machen sowohl zwischen sich selbst und ihren Gästen als auch zwischen ihren Gästen und unerbetenen uniformierten Eindringlingen. Es ist das Recht des Gastes, Gast zu bleiben und auf Zeit zu bleiben, oder aber nach den Bedingungen für ein dauerhaftes Hiersein zu fragen und aufzuhören, die selbstverständlichen Privilegien des Gastes zu erhalten. Der eindeutigen Entscheidung für ein Land sollte auch die Eindeutigkeit der Staatsangehörigkeit entsprechen. Wenn etliche in die BRD gekommene Polen-Deutsche und hier eingewanderte Polen ihren polnischen Paß neben dem bundesdeutschen behalten, um damit Geschäfte zu machen, wenn mit Amerikanern verheiratete Deutsche sich zusätzlich die amerikanische Staatsangehörigkeit verschaffen, um in sich die Hoffnung zu nähren, im Spannungsfall noch rechtzeitig, ehe die Bombe fällt, von der US-Air-Force mitsamt ihren Haustieren ausgeflogen zu werden, so ist dies unvereinbar mit einer Gleichheit aller Bürger eines Landes in ihren Rechten und Pflichten, mit einer auf bewußte Mitentscheidung und Mitgestaltung gegründeten solidarischen Gesellschaft.
Der große deutsch-jüdische Religionsphilosoph Martin Buber schreibt über die Besonderheit und Identität der Völker: »Jedes Volk hat sein eigenes Wesen und seine eigene Gestalt, jedes Volk steht in seiner eigenen Art und darf keinem anderen untertan sein. Jedes Volk hat seinen natürlichen Ort und seinen Anspruch, dort zu leben.« Es ist ein Verbrechen, die Deutschen als ein besonders gutes oder ein besonders schlechtes Volk anzusehen und zu behandeln. Sie sind wie alle anderen Völker aufs Ganze gesehen, in geschichtlicher Dimension und aus der Distanz des unbefangenen Beobachters, ein Volk unter anderen Völkern, von denen jedes etwas Besonderes ist, besondere geschichtliche Erfahrungen und Erkenntnisse, besondere Stärken und Schwächen, vor allem aber eine besondere Kultur -von den Üblichkeiten des Essens und Trinkens bis zu den Gewohnheiten der Weltbetrachtung - sich und der Welt geschaffen hat. Diesen Platz unter den Völkern einzunehmen, ist die Verpflichtung der Deutschen.