Kein anderes Ereignis in der modernen Geschichte war ähnlich bedeutsam und durch seine Plötzlichkeit ähnlich überraschend wie die Implosion des Sowjetimperiums. Vor der Geschichte bedeutet der Zusammenbruch der Staatsschöpfung Lenins und Stalins die denkbar radikalste Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges. Von diesem Schlag hat sich die westliche Linke bis heute nicht erholt.
Jede Änderung in der Geschichte gebiert automatisch das Lager der Revisionisten und das der Konterrevisionisten: Aus dem Zusammenprall beider Lager entstand der russische Historikerstreit.
Zu den Antirevisionisten zählt etwa Ussenko, während Boris Jelzin ins Lager der Revisionisten gehört. Jelzin dekretierte die Ersetzung der roten Sowjetfahne mit Hammer und Sichel durch die petrinische Flagge WeißBlauRot und den Tausch der Stalinhymne gegen Glinkas »Patriotisches Lied« aus dem 19. Jahrhundert. Als neues Staatssymbol führte er den Doppeladler der Romanows ein. Eine fundamentalere Form des Paradigmenwechsels ist geschichtsphilosophisch nicht denkbar: Vom System der Zarenmörder zur Restauration zaristischer Symbole.
Im postsowjetischen Rußland beschäftigt man sich mit Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufarbeitung, jedoch nicht mit psychopathologischen Exzeßmethoden. Die russische Öffentlichkeit ist frei von nationalmasochistischen Schuldkomplexen.
In das Gästebuch der KZ Gedenkstätte Dachau schrieb der russische General Alexander Lebed am 18. Januar 1997: »Man soll nicht mit Pistolen auf die Vergangenheit schießen, sonst kommen Kanonenkugeln zurück.«
Daß der bolschewistische Klassen und Völkergenozid ein in der Menschheitsgeschichte beispielloses Phänomen darstellt, ist im Bewußtsein russischer Intellektueller tief verwurzelt. Während Solschenizyn und der Historiker Kurganow von 66 Millionen Menschenopfern sprechen, beziffert Lebed die Zahl der Erschossenen, Verhungerten, durch Zwangsarbeit Umgekommenen, in Bürgerkriegen und Weltkriegen Gefallenen im Zeitraum 1914 - 1991 auf 75 Millionen.
Daraus den Schluß zu ziehen, daß alle noch lebenden Kommunisten mit Berufsverbot, Parteiverbot, Druckverbot, gesellschaftlicher Ächtung oder polizeilicher Verfolgung bestraft werden müßten, ist so absurd, daß der Gedanke daran nicht einmal in der kontroversen Mediendiskussion auftaucht. Daß der Gulagismus das Böse an sich war, verleitet weder Antikommunisten noch Revisionisten dazu, in jedem Kommunisten den Bösen an sich zu sehen. Das postkommunistische Rußland kennt weder Verfassungsschutzämter noch Verfassungsschutzberichte. Das Delikt »Gulaglüge« existiert nicht, folglich gibt es auch keine politische Justiz, politische Gefangene gehören der Vergangenheit an, Zensur und Indizierung finden nicht statt. Eine polizeigeschützte Staatsreligion bilden weder der Antistalinismus noch der Antifaschismus.