Buchkritik -- Jérôme Ferrari -- Balco Atlantico

Umschlagfoto, Balco Atlantico, InKulturA Mit "Balco Atlantico" legt Jérôme Ferrari den dritten Teil seines Romanzyklus über das französische zwanzigste Jahrhundert vor. Die französische Originalausgabe erschien - vor den beiden anderen Bänden - bereits im Jahr 2008. Wieder macht Ferrari Korsika zum Schauplatz seines Romans. Der Leser findet sich erneut in der Bar von Marie-Angèle wieder und es sind die achtziger Jahre, in denen der korsische Unabhängigkeitskampf von allen Beteiligten mit aller Härte und ideologischer Verblendung geführt wird.

Der Erzähler, der die Jahre zwischen 1985 und 200 Revue passieren lässt, ist der Hochschullehrer Theodore, der, beruflich und privat gescheitert, nach seinem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik vom französischen Festland nach Korsika übersiedelt und dort Stammgast in der Bar von Marie-Angèle wird.

Theodore ist das Zentrum des Romans. Er erzählt, kommentiert, phantasiert - er diagnostiziert bei sich Gedächtniswucher - und führt den Leser durch die mitunter diffus anmutenden Handlungsstränge der Protagonisten.

Da sind die Geschwister Khaled und Hayet, die, aus Marokko stammend, auf ihren Spaziergängen auf dem Balco Atlantico, eine Küstenstraße, die sich von der Tanger nach Larache zieht, von einer besseren Zukunft im Land jenseits des Atlantiks träumen und schließlich auf Korsika landen. Hayet findet in der Bat von Marie-Angèle einen Job. Ihr Bruder Khaled wird Tellerwäscher in einem Restaurant.

Da ist Stéphane, der gleich zu Beginn des Romans ermordet wird und dessen Geschichte rückblickend von Theodore erzählt wird und da ist Vincent, der nach langjährigem Auslandsaufenthalt nach Korsika zurückkehrt.

Es sind die Träume und die Hoffnungen, letztendlich jedoch auch das Scheitern der Figuren, an denen Jérôme Ferrari den Leser teilhaben lässt. Der äußeren Gewalt durch korsische Separatisten folgt die innere Zerrissenheit der Menschen, deren der Leser durch die Augen von Theodore gewahr wird.

Die Bar von Marie-Angèle ist der Mikrokosmos, in dem die Lebenswege der Personen kollidieren. Fanatisiert und aufgrund dessen unfähig zur Lösung individueller Differenzen und politischer Meinungsverschiedenheiten, brechen als einzig noch vorhandener Ausweg aus dem Dilemma der längst gescheiterten Kommunikation Gewaltexzesse aus, deren unkontrollierte Brutalität die achtziger Jahre bestimmte.

"Es gab unzählige Arten von Orten, Straßen, Cafés, Restaurants, ganze Dörfer, die man nicht mehr aufsuchen konnte, da die anderen dort in der Mehrheit waren - und es war, als wären sie von der Karte getilgt." Ferrari lässt seinen Erzähler Theodore von diesem Wahnsinn erzählen, zu dessen Opfern auch Khaled und sein algerischer Freund Ryad werden.

"Balco Atlantico" ist wieder ein Roman, der sich mit dem auseinandersetzt, was ein schier unüberwindlicher Faktor menschlicher Existenz zu sein scheint. Die große Unwahrscheinlichkeit gelungenen Lebens. Träume zerplatzen durch Egoismus und Triebhaftigkeit. Ferrari beschreibt und demaskiert den korsischen Separatismus als dumpfen Machismo, der Kampf, Krieg und Gewalt als Pose eines politischen Aktivismus verklärt.

Mit den dritten Teil seiner Trilogie hat Jérôme Ferrari erneut bewiesen, dass seine Themen, obwohl eigentlich französische, eine universelle Gültigkeit besitzen.




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