Buchkritik -- Bastian Conrad -- Christopher Marlowe - Der wahre Shakespeare

Umschlagfoto  -- Die Wissenschaften besitzen einen ungeschriebenen, nicht offiziellen Kanon, der interne Verhaltensregeln und Lehrmeinungen aufstellt, gegen die, ohne Verlust der Reputation, kein Wissenschaftler verstoßen wird. Die einzelnen Fachbereiche sind trotz gelegentlicher Meinungs- und Richtungsstreitigkeiten für die Arrivierten und die Etablierten in der Regel kuschelige Enklaven liebevoll gehegter Lehrmeinungen.

Die Literaturwissenschaft bildet in dieser Beziehung keine Ausnahme. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ausgerechnet ein, vom Wissenschaftsbetrieb gern Fachfremder genannter Außenseiter die fest gefügte Lehrmeinung in Bezug auf die Urheberschaft eines Autors des 16. Jahrhunderts kräftig ins Wanken bringt.

Bastian Conrad rüttelt in seinem Buch Christopher Marlowe - Der wahre Shakespeare gewaltig am Gebäude des herrschenden wissenschaftlichen Kanons. Auf über 700 Seiten weist er nach, dass William Shakespeare und Christopher Marlowe ein und dieselbe Person sind. Mit seinen Untersuchungsergebnissen zerstört er einen seit langem bestehenden Konsens in der Literaturgeschichte, der besagt, dass Marlowe bestenfalls als Vorgänger und Wegbereiter Shakespeare anzusehen ist.

Jedem, der sich mit den Werken und dem Leben William Shakespeares beschäftigt, ist klar, dass es mehr als einen Widerspruch zwischen den biographischen Daten des Autors auf der einen und der literarischen Darstellung auf der anderen Seite gibt. Auch der Marlowe/Shakespeareforschung ist dies seit Langem bewusst. Bastian Conrad geht ausführlich auf diese Abweichler ein, denen der etablierte literaturhistorische Wind ins Gesicht bläst.

Auch der Autor dürfte bald zu dem Kreis von wissenschaftlichen Störenfrieden gehören, mit denen die herrschende Lehre hart ins Gericht gehen wird. Ganz so einfach wird es für die etablierte Shakespeareforschung diesmal nicht werden, legt Bastian Conrad doch Buch vor, das bestens recherchiert und faktenreich seine These von der Identität Marlowe/Shakespeare darlegt.

Christopher Marlowe, ein bereits zu seinen Lebzeiten gefeierter und bekannter Autor, kam nach offizieller Lesart im Verlauf einer Wirtshausstreiterei ums Leben. Zuvor wurde er wegen Häresie und Hochverrat angeklagt und ihm drohte die Todesstrafe. Für Conrad war dies der Moment, in dem Marlowe - mithilfe einflussreicher Freunde - die Identität eines William Shakspere aus Stratford annahm und somit vom Radar öffentlicher Wahrnehmung verschwand. Fortan schrieb und veröffentlichte Christopher Marlowe unter dem Namen William Shakespeare. Daneben benutzte er zahlreiche Pseudonyme und Tarnidentitäten.

Die Zweifel an der Autorschaft William Shakespeare kursieren seit Langem in der Literaturwissenschaft, ohne dass es deren Urhebern gelungen wäre, sich mit ihrer Meinung im etablierten Wissenschaftsbetrieb durchzusetzen. Die Korrektur der gängigen Shakespeare/Stratford Vorstellung würde nicht nur dem Tourismus, sondern auch den vehementen "Stratfordianern" schaden, von der Korrektur der Lehrbücher ganz zu schweigen. Drohende finanzielle Einbußen und ein Ritzen an der Reputation von wissenschaftlichen Meinungsführern haben bereits so manche Korrektur historischer Fehlbeurteilungen verhindert.

Bastian Conrad hat mit seinem Buch die Messlatte für den zukünftigen Umgang mit Zweiflern an der Urheberschaft von William Shakespeare jedoch um Einiges höher gelegt. Indem er die Werke von Marlowe/Shakespeare einer biographisch-literarischen Prüfung unterzieht, kommt er zu dem eindeutigen Ergebnis, dass ein gewisser William Shakspere nur der Namensgeber für den von der Todesstrafe bedrohten Autor Christopher Marlowe gewesen ist.

Die Argumente des Autors wiegen schwer und werden von der Fachwelt nicht ohne Weiteres zu entkräften sein. Es ist, so Conrad, nahezu unmöglich, dass der Verfasser der bislang Shakespeare zugeordneten Sonette ein Kaufmann aus Stratford gewesen sein soll, der bis dato durch keinerlei literarische Produktion aufgefallen ist und der auch nach seinem Tod keinerlei Hinweis auf eine schriftstellerische Karriere hinterlassen hat. Zudem zeigen computergestützte Syntaxanalysen, die die Werke von Marlowe und Shakespeare vergleichen, dass auch hier einiges für die These Conrads spricht.

Ebenso ist nicht nachzuweisen, dass Shakespeare intime Kenntnisse des höfischen Lebens in England und Europa besaß. Über genau diese hat jedoch Christopher Marlowe, neben fremdsprachlichen Kenntnissen, verfügt. Viele Stellen im Werk von Marlowe/Shakespeare werden erst verständlich, wenn man sie mit der biographischen Situation Marlowes in Verbindung bringt. Er, ein offiziell für tot Erklärter, ein Ausgestoßener, ein einsamer Schriftsteller, dem erst nach seiner "Rettung" durch hochgestellte Freunde klar wurde, welchen Preis er für sein Überleben zahlen musste, beklagt sein Schicksal mehr oder weniger direkt in seinen Werken.

Es ist mehr als unverständlich, weshalb diesen bekannten Tatsachen in der Literaturwissenschaft bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Ursachen dürften jedoch in den bereits genannten Gründen - finanzielle Einbußen und beschädigte wissenschaftliche Reputation - liegen.

Christopher Marlowe - Der wahre Shakespeare von Bastian Conrad führt so viele schlagkräftige Argumente für die Identität von Marlowe/Shakespeare an, dass ab sofort alle diejenigen, die weiterhin die Augen vor dieser Tatsache verschließen, Gefahr laufen werden, ihren wissenschaftlichen Ruf zu verlieren.

Es ist auf der einen Seite bezeichnend für den normierten Wissenschaftsbetrieb, dass erst ein "Fachfremder" an den gut gehüteten Gewohnheiten kratzen muss, um neuen Erkenntnissen den Weg ins wissenschaftliche Bewusstsein zu ebnen, auf der anderen Seite zeigt es aber auch, dass die Wissenschaft, besonders die sog. weichen Wissenschaften - in diesem Fall die Literaturgeschichte - sich nicht mehr in den Elfenbeinturm zurückziehen, und einmal verkündete vermeintliche Wahrheiten als ewig gültige postulieren können. Das ist ein gewaltiger Fortschritt.




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Interview mit Bastian Conrad auf merkur-online über sein Buch Christopher Marlowe - Der wahre Shakespeare