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Buchkritik -- Tillmann Bendikowski -- Die Spur des Silbers

Umschlagfoto, Buchkritik, Tillmann Bendikowski, Die Spur des Silbers, InKulturA Wer das Familiensilber betrachtet – sorgsam bewahrt von den Großeltern, über Generationen hinweg durch manch widrige Zeiten gerettet –, ahnt selten, welch weitreichende historische Kräfte und globale Verflechtungen in diesem unscheinbaren Metall sedimentiert sind. Tillmann Bendikowski lädt dazu ein, diesen verborgenen Fährten nachzuspüren, und entwirft mit „Die Spur des Silbers‟ eine faszinierende Kultur- und Weltgeschichte, die uns von den Schatzkammern der Vergangenheit bis in die Gegenwart führt.

Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. Doch es war ein Ereignis, das sich wenige Jahrzehnte später in den unwirtlichen Höhen der Anden zutrug, das die Welt auf eine Weise miteinander vernetzte, wie es sie zuvor noch nie gegeben hatte. Die Entdeckung der schier unerschöpflichen Silbervorkommen im Cerro Rico bei Potosí im heutigen Bolivien im Jahr 1545 durch die spanischen Konquistadoren war der Startschuss für die erste große Globalisierung. Der unaufhörliche Strom von Silber, der aus den Tiefen dieses Berges floss, verband nicht nur die Alte und die Neue Welt, sondern schuf ein globales Wirtschaftsgeflecht, das bis nach Asien reichte und die Welt nachhaltig veränderte.

Das Zentrum dieser neuen Weltwirtschaft war Potosí, eine Stadt, die in über 4000 Metern Höhe aus dem Nichts entstand und innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer der größten und reichsten Städte der damaligen Welt anwuchs, größer als London oder Paris. Doch dieser Reichtum hatte eine dunkle Kehrseite. Er basierte auf der brutalen Ausbeutung der indigenen Bevölkerung, die unter unmenschlichen Bedingungen zur Zwangsarbeit in den Minen gezwungen wurde. Hunderttausende starben an Erschöpfung, Krankheiten oder durch die giftigen Quecksilberdämpfe, die bei der Silbergewinnung freigesetzt wurden. Der Cerro Rico, der „reiche Berg“, wurde so auch zum „Berg, der Menschen frisst“. Das Silber, das unter unsäglichem Leid gefördert wurde, nahm von Potosí aus seinen Weg in die Welt. In Form von Silbermünzen, den berühmten „Reales de a ocho“ oder „Pesos“, wurde es mit den spanischen Silberflotten über den Atlantik nach Sevilla transportiert. Von dort aus verteilte es sich über ganz Europa. Die spanische Krone finanzierte mit dem Silber ihre gewaltige Armada, ihre prunkvollen Paläste und ihre zahlreichen Kriege. Doch das Silber blieb nicht in Spanien. Da das Land selbst kaum Waren produzierte, floss es weiter an die großen Handels- und Finanzzentren in Genua, Antwerpen und Amsterdam, um die Importe von Luxusgütern, Stoffen und Waffen zu bezahlen. Ein erheblicher Teil des Silbers nahm jedoch einen noch weiteren Weg. Mit der Manila-Galeone, die einmal jährlich zwischen Acapulco in Mexiko und Manila auf den Philippinen verkehrte, gelangte das amerikanische Silber nach Asien. Dort war es die begehrte Währung, um die kostbaren Waren zu erwerben, nach denen Europa dürstete: Seide, Porzellan und Gewürze aus China und Indien.

Dieser massive Zustrom von Silber nach Europa hatte dramatische wirtschaftliche und soziale Folgen. Da die Menge an verfügbarem Geld schneller wuchs als die Produktion von Waren, kam es zu einer bis dahin ungekannten Inflation, die als die „Preisrevolution“ des 16. und 17. Jahrhunderts in die Geschichte einging. Die Preise für Güter des täglichen Bedarfs, wie Getreide, Holz und Fleisch, stiegen in vielen Teilen Europas auf das Zehnfache an. Während Händler, Unternehmer und das aufstrebende Bürgertum von dieser Entwicklung profitierten, traf sie die breite Masse der Bevölkerung hart. Die Löhne hielten mit der Teuerung nicht Schritt, was zu einer dramatischen Verarmung von Kleinbauern, Handwerkern und Lohnarbeitern führte. Hunger und soziale Unruhen waren die Folge. Langfristig legte der Silberstrom jedoch auch den Grundstein für die moderne Geldwirtschaft in Europa. Er befeuerte den Handel, ermöglichte die Finanzierung von Staaten und schuf die Basis für den Aufstieg des Kapitalismus.

Die Auswirkungen des Silbers reichten jedoch weit über Europa hinaus. China entwickelte sich zur „Silbersenke“ der Weltwirtschaft. Da das chinesische Steuersystem auf Silber basierte und die Nachfrage nach dem Edelmetall riesig war, floss ein Großteil des amerikanischen Silbers letztendlich ins Reich der Mitte. Dieser Zufluss hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft und Gesellschaft. Er führte zu einer Monetarisierung der Wirtschaft und förderte die kommerzielle Produktion von Gütern für den Export. Aber auch andere Regionen der Welt wurden in das neu entstehende globale Handelsnetz integriert. Das Osmanische Reich und Indien waren wichtige Handelspartner, die europäische Waren gegen Silber tauschten. So entstand ein globales Handelsgeflecht, in dem das Silber aus Südamerika als Schmiermittel diente und die Kontinente enger miteinander verband als je zuvor.

Die Ausbeutung der Silbervorkommen Südamerikas durch die Spanier ab dem 16. Jahrhundert leitete die erste Globalisierung ein. Das Silber aus Potosí war der Motor, der ein weltumspannendes Wirtschafts- und Handelssystem in Gang setzte. Es führte zu tiefgreifenden Veränderungen in Europa, von der Preisrevolution und sozialen Verwerfungen bis hin zur Entstehung einer modernen Geldwirtschaft. Gleichzeitig integrierte es Asien, insbesondere China, in dieses globale System und schuf die Grundlagen für die moderne Weltwirtschaft. Das Erbe dieser ersten Globalisierung ist ambivalent. Es ist eine Geschichte von unermesslichem Reichtum und unvorstellbarem Leid, von wirtschaftlicher Dynamik und brutaler Ausbeutung. Doch sie zeigt auch, wie eng die Welt schon vor Jahrhunderten miteinander verflochten war und wie ein einzelnes Ereignis an einem entlegenen Ort eine globale Kettenreaktion auslösen kann, deren Auswirkungen bis in unsere heutige, globalisierte Welt nachwirken.




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Veröffentlicht am 29. September 2025