Ein Streitschrift wider den offiziellen politischen Mainstream. Pascal Bruckner geht mit der Moderne nicht gerade sanft ins Gericht. Schon der Titel "Ich leide, also bin ich", zeigt die Art seiner Argumentation an. Für ihn sind es hauptsächlich zwei Dinge, die an der Malaise des modernen Menschen Schuld sind. Dies ist zum einen die Infantilisierung der Menschen und zum anderen die Viktimisierung der Gesellschaft.
Unter Infantilisierung versteht Bruckner, die Weigerung von Erwachsenen Menschen eben das Erwachsen sein zu akzeptieren. Verantwortung zu übernehmen und das eigene Leben bewußt in die schaffenden Hände zu nehmen. Das Individuum ist aus allen Bindungen herausgefallen. Seit dem Zeitalter der Aufklärung fallen dem Menschen immer mehr Verantwortlichkeiten für sein eigenes Leben zu. Die einst wichtige Rolle, die Religion, Familienbande und gesellschaftliche Normen spielten gibt es nicht mehr. Die Menschen müssen für sich alleine sorgen. Keine "Institution" (Gehlen) sorgt mehr für sie. Der Mensch ist also im wahren Sinn des Wortes frei. Frei von allen Traditionen, Überlieferungen und gesellschaftlichen Zwängen. Er muß sein Leben alleine in den Griff bekommen.
Genau diese Freiheit aber ist für Bruckner ein Pyrrhussieg. In dem Maße, wie der Mensch frei geworden ist von tradierten Bindungen, muß er sein eigenes Wertesystem schaffen. Es gibt dem Menschen die Möglichkeit sich selber immer wieder neu zu definieren. Es existieren nahezu keine festgesetzten Grenzen mehr. Eben dies überfordert aber auch das Individuum. Es weigert sich erwachsen zu werden, sich seiner Verantwortung für die eigene Existenz und damit natürlich auch der Verantwortung für die Welt zu stellen. Er verweilt im Zustand des ewigen Infantilismus. Seine Bedürfnisse müssen sofort und in vollem Umfang befriedigt werden.
Aus dieser fortschreitenden Infantilisierung resultiert die zweite von Bruckner postulierte These: Die Viktimisierung. Bei eigenem Versagen oder eigenem Unvermögen das eigene Leben in den Griff zu bekommen, wird zuallererst der andere dafür verantwortlich gemacht. Minderheiten geben der Mehrheit die Schuld an ihrer jeweiligen Lebenssituation. Die Fähigkeit zur Selbstkritik und Veränderung fehlt.
Zentral weist Bruckner seine Thesen anhand des sich immer weiter steigernden Konsums dar. Das Individuum muß, um der eigenen inneren Leere zu entfliehen, ständig konsumieren. Die Warenwelt bietet ihrerseits genügend Dinge an, die dem Leben einen scheinbaren Sinn geben sollen. Es heißt also nicht nur "Ich leide, also bin ich", sondern auch "Ich konsumiere, also bin ich".
Bruckner, der hier ein sehr wertkonservatives Buch vorlegt, berührt mit seiner Streitschrift einen wunden Punkt der modernen Gesellschaft. Einerseits die Forderung nach Freiheit, nach der Abschaffung sämtlicher traditionellen Bindungen, andererseits die Orientierungslosigkeit des Individuums wenn diese Grenzen wirklich aufgehoben werden. Für ihn ist der Mensch erst dann der Freiheit fähig und würdig, wenn es ihm gelingt, seine eigene Existenz ohne Hilfe von Surogaten wie Konsum oder exessive Medienberieselung zu schaffen.
Um alle seine Thesen zu untermauern, führt Bruckner einen Kulturvergleich zwischen den USA und Europa durch. Keine Frage zu wessen ungunsten dieser Vergleich endet. In den USA sieht er all das, was die Probleme des modernen Menschen ausmacht, entstanden. Permanente Manipulation durch die Massenmedien, eine steigende Prozeßflut über die banalsten Dinge, die Reduzierung der individuellen Verantwortung etc. Leider meint er, wenn er von europäischer Kultur spricht, immer die französische, allenfalls noch Teile der mediterranen Kultur. Insofern ist er ein typischer Vertreter französischer Autoren, die allenfalls noch in Denkern wie Nietzsche verwandte Geister sehen, ansonsten aber ausschließlich in französischen Denktraditionen beheimatet sind.
Trotzdem ist dieses Buch, bzw. wie Bruckner es selber bezeichnet, die Streitschrift, ein wichtiger Beitrag zur Situation des modernen Menschen. In vielen Punkten trifft seine Zeitkritik zu und ermöglicht es, neue Lösungansätze zu finden, um der herrschenden Sinnentleert zu entgehen. Selbstkritik, der Wille zum "Werte setzen", bzw. "Werte schaffen" und die Einsicht in die Notwendigkeit der existenziellen Freiheit des Menschen kann dafür sorgen, das die Zukunft für alle Menschen lebenswerter wird.
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