Buchkritik -- G.G. von Bülow -- Das Kühnesche Haus

Umschlagfoto, Buchkritik, G.G. von Bülow, Das Kühnesche Haus , InKulturA Das Kühnesche Haus in der Hagenstraße Nr. 9, Ecke Holzmarktstraße, ist ein unter Denkmalschutz stehendes Fachwerkhaus, reich dekoriert und das Fotomotiv schlechthin in der Innenstadt von Haldensleben in Sachsen-Anhalt. Zurzeit wird es als Wohnhaus genutzt. Das Erdgeschoss ist massiv gebaut, darüber befinden sich zwei vorkragende Fachwerkobergeschosse. Im Jahr 1592 erbaut und im 17. Jahrhundert erweitert, erwies sich im 19. Jahrhundert die Bausubstanz als sanierungsbedürftig. 1875 erwarb der Goldschmiedemeister Clemens Kühne (1834–1902) das marode Haus und ließ es umfassend sanieren. Dabei wurde das Erdgeschoss umgebaut und das aus dem Jahr 1592 stammende Sitznischen-Portal von der Hagenstraße zur Holzmarktstraße verlegt. 1905 wurde an der Südwestseite das Turmhaus angebaut und 1923 weitere Umbaumaßnahmen durch Franz Kühne (1868–1946) durchgeführt. 1932 erwarb der Kaufmann Theodor Zabel das Haus. Bis zum Jahr 1952 und der Flucht der Familie Zabel nach Westdeutschland blieb es in deren Besitz. Als sog. „Republikflüchtige“ bezeichnet, wurde deren Grund und Boden, das Kühnesche Haus, wie es noch immer hieß, enteignet. Im Jahr 1993 fand die Restitution an Dirk Zabel statt, und ab dem 19. Dezember 2005 ist die WOBAU, die Wohnungsbaugesellschaft Haldensleben mbH der aktuelle Grundeigentümer.

Historisch-nüchterne Fakten, die, blieben sie so stehen, als bald wieder vergessene Hintergrundinformationen bei Stadtführungen und Touristenbesuchen ein kurzes Leben fristen. Wer anderes als die letzte noch lebende Kühne-Enkelin, die Autorin G.G. von Bülow, die ihre Kindheit bis 1948 in Haldensleben verbrachte, wäre dazu berufen, diese prosaischen Daten mit Leben zu füllen?

Sie nimmt den Leser mit auf eine Reise, die vor 425 Jahren beginnt und die sowohl turbulente Jahre, glückliche Zeiten als auch Krieg, Leid und Not umfasst. Ein Haus wie das Kühnesche ist mehr als nur Bauwerk. Es ist gleichzeitig ein Anker im Lauf der Zeit und ein stiller Biograph der darin lebenden, liebenden und sterbenden Menschen.

In Zeiten eines dramatisch sich vollziehenden Bruchs im Bewusstseins der Notwendigkeit Generationen übergreifenden Denkens, also des Wissens um historische Kontinuität als Voraussetzung gesellschaftlichen Zusammenhalts, in der sich Vergangenes nicht als reaktionär zu verachtendes, sondern als konstruktiv für die Zukunft zu nutzendes Material versteht, kommt diese, nicht ohne innere Rührung zu lesende Chronik gerade recht.

Die Autorin, die dort viele Jahre ihres Lebens verbracht hat, lässt den Alltag, aber auch das nicht alltägliche Revue passieren. Sie erzählt die Geschichten, die Anekdoten und die vielen kleinen, im Ruhrpott würde man Dönekens sagen, Ereignisse, Erlebnisse und Begebenheiten, die sich für uns Heutige des Öfteren als skurril, sogar als schwer nachvollziehbar darstellen, den geschilderten Personen in ihrem eigenen Zeit- und Gesellschaftsrahmen jedoch als vollkommen normal galten.

„Allerlei Geschichte(n) aus Haldensleben“ ist ein gelungenes Stück Geschichte, das, die Leserinnen und Leser werden das goutieren, mit viel Gespür für die, manche nennen sie „kleinen Dinge“ des Lebens und, darf man sagen Herzblut? geschrieben ist. Fotos, Illustrationen und historisch-zeitgenössische Dokumente machen aus diesem Buch eine Fundgrube für alle, die mehr wollen als nur die historisch-nüchternen Fakten.

Einer der letzten Sätze der Autorin bringt es auf den Punkt: „Im Bewusstsein dessen, was Verantwortung bedeutet, aber auch Verlust, steht im Fokus meiner Betrachtungen die Chronik der Familie Kühne – als Namensträger des Kühneschen Hauses. Ich verstehe mich daher als Anwältin der Interessen meiner Vorfahren, die ich vor der Geschichte verteidige.“

In einer Zeit, in der sich viele, allzu viele berufen fühlen, Meinungen und Aussagen wie diese „misszuverstehen“, ein überaus couragierter Standpunkt. Chapeau Frau von Bülow!




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Veröffentlicht am 31. Dezember 2018