Buchkritik -- Nadia Bozak -- Der Junge

Umschlagfoto, Buchkritik, Nadia Bozak, Der Junge, InKulturA Für Bergsteiger beginnt die Todeszone oberhalb von 8000 Metern. Für andere, wie den Jungen Chávez, eine der Hauptpersonen in Nadia Bozaks Roman, existiert diese jedoch bereits auf Meeresniveau. Unsichtbar bleiben, keine Probleme machen und als Lohnsklaven dafür sorgen, dass der Wirtschaft der Region des Grenzgebiets zwischen Mexico und den USA mit kostengünstigem menschlichen Nachschub versorgt wird.

Der reißt auch nicht ab, denn zuerst verschwinden Mütter und Väter auf der Suche nach Arbeit aus den mexikanischen Dörfern, gefolgt von den Jungen, die ihren Eltern folgen und dadurch in einen Teufelskreis geraten, der ihnen nur die Wahl lässt zwischen Ausbeutung und Tod. „Beschwere dich nie, egal was passiert“, so das ungeschriebene Gesetz. „Die Menschen im Norden wollen nur glückliche Geister sehen. Keine traurigen Geister oder angepissten Geister oder betrunkenen Geister“.

Chávez kämpft mit der Grenzkontrolle und der Liebe zu seinem Freund, während er andere junge Migranten durch die Wüste führt. Er steht für eine der drei wechselnden Erzählperspektiven dieses Romans. Die zweite ist Honey, eine College-Professorin, die beschließt, ihre Mutter, die seit Jahren in der fiktiven Oro-Wüste lebt, zu besuchen und dabei feststellen muss, dass sie verschwunden ist. Honeys Suche nach ihrer Mutter bildet den Plot des Buches, um den herum Nadia Bozak mit der dritten Hauptfigur Baez, einem Hund, die Handlungsstränge miteinander verbindet und dabei virtuos zwischen Spannung und Tragödie, zwischen gnadenlosem Existenzialismus und harten sozialen Kommentaren wechselt.

„Der Junge“ scheint außerhalb der realen Zeit zu spielen und liest sich wie eine dystopische Science-Fiction Erzählung, führt die Leser und Leserinnen jedoch immer wieder zurück zu aktuellen sozialen, den kapitalistischen Menschenvernutzungsmechanismen geschuldeten Verwerfungen in einer scheinbar postapokalyptische Welt, die vergeblich darauf wartet, von ihren Übeln erlöst zu werden.

Das Gesetz des Stärkeren, Brutalität und Umweltschäden durch geschlossene, nicht mehr rentable Fabriken verwandelte die Region gleichsam in einen Vorhof der Hölle, die jede der drei Hauptfiguren auf ihre Weise wahrnimmt, sie am eigenen Leib zu spüren bekommt.

Honey, eine durch und durch urbane Frau, strandet auf der Suche nach ihrer Mutter in der Wüste und überlebt nur mit Hilfe von Chávez, ein Junge, der, wie seine gleichaltrigen Leidensgenossen, niemals jung gewesen ist. Er und die Hündin Baez sind ausgestoßene, vom Schicksal ausgespuckte Figuren, die sich jeden Tag im Kampf ums Überleben befinden.

Es ist ausgerechnet die Hündin Baez, der Bozak eine berührende Menschlichkeit zukommen lässt. Ohne jedoch in Sentimentalität abzugleiten, lässt die Autorin der vierbeinigen Hauptfigur großen Spielraum und ihr durch Schmerz und Verlust geprägtes Leben Revue passieren, das eines zeigt. Die wahre Bestie ist weder die Wüste noch die in ihr lebenden Tiere. Die Bestie ist in Wirklichkeit der Mensch.

Im Glutofen der Wüste, im realen US-amerikanische Schmelztiegel, treffen sie aufeinander, die Protagonisten, die den zur Schau gestellten Wohlstand des weißen Amerika personifizieren, ihn befeuern und perpetuieren. Honey, die Nutznießerin mit schlechtem Gewissen. Chávez, gleichzeitig Opportunist und Opfer und Baez, die geschundene Kreatur, die hier auch stellvertretend für den rücksichtslosen Umgang mit der Umwelt steht.

„Der Junge“ ist ein harter, ein schonungsloser Roman, der bei vielen Lesern und Leserinnen lange nachwirken dürfte. Denn, diese unbequeme Frage drängt sich nach der Lektüre unwillkürlich auf, steckt nicht in vielen von uns ein Teil Honey?




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Veröffentlicht am 5. September 2021