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M.W. Craven beweist mit „Der Kurator‟ einmal mehr, dass er zu den aufregendsten Stimmen des modernen britischen Kriminalromans zählt. Sein neuer Thriller ist ein Ereignis; ein literarisches Vexierspiel aus Raffinesse, schwarzem Humor und psychologischer Tiefe, das den Leser gleichermaßen fesselt, überrascht und verstört. Craven, längst kein Geheimtipp mehr, versteht es meisterhaft, klassische Ermittlungsarbeit mit erzählerischer Kühnheit zu verbinden. Sein Roman ist unverschämt verdreht, packend komponiert und in jeder Hinsicht ein furioser Ausflug in die dunklen Winkel der menschlichen Psyche. Ein weiterer Höhepunkt in der Serie um den unkonventionellen Ermittler Washington Poe und die genialisch-naive Datenanalystin Tilly Bradshaw von der National Crime Agency.
Der Auftakt scheint zunächst fast beiläufig: eine Babyparty für die gereizte und hochschwangere DI Stephanie Flynn, eine Szenerie, die Poe am liebsten gemieden hätte, wäre da nicht Tillys charmant-durchdringende Hartnäckigkeit. Doch aus dem privaten Anlass wird rasch tödlicher Ernst, als Flynn zu einem bizarren Fund in die karge Landschaft Cumbrias gerufen wird: Drei Paare abgetrennter Finger, verstreut über verschiedene Orte, versehen mit der mysteriösen Markierung #BSC6; eine Signatur, die den Ermittlern bald schlaflose Nächte bereiten wird.
Trotz ihres Zustands weigert sich Flynn, die Ermittlungen aus der Hand zu geben. Gemeinsam mit Poe und Tilly wird sie von der kühlen, aber entschlossenen Detective Superintendent Jo Nightingale in ein unabhängiges Sonderteam eingebunden. Nightingale weiß um Poes rücksichtslosen Instinkt, Beweise aufzuspüren, koste es, was es wolle, und um seine notorische Unfähigkeit, sich polizeilicher Hierarchie zu beugen. Es ist genau diese Mischung aus Unangepasstheit und Scharfsinn, die ihn zu einer der faszinierendsten Figuren des zeitgenössischen Krimis macht.
Die Spur führt zu drei Opfern, die auf den ersten Blick nichts miteinander verbindet: Howard Teasdale, ein vorbestrafter Sexualtäter; Rebecca Pridmore, eine Mitarbeiterin des Verteidigungsministeriums; und Amanda Simpson, eine unauffällige Verkäuferin. Doch wie so oft bei Craven ist nichts so, wie es scheint. Als Poe einen Anruf von der in Ungnade gefallenen FBI-Agentin Melody Lee erhält, öffnet sich der Fall zu etwas weit Größerem – und Beunruhigenderem. Melodys düstere Warnung „Und immer wenn man glaubt, den Fall im Griff zu haben, weiß man, dass der Kurator einen genau da hat, wo er einen haben will‟, entfaltet sich wie ein Menetekel über der Handlung. Die Wahrheit, die sich nach und nach enthüllt, ist ebenso schockierend wie kunstvoll inszeniert und selbst Poe, der schon vieles gesehen hat, wird am Ende an den Abgrund seiner seelischen Belastbarkeit geführt.
Cravens größtes Kunststück bleibt jedoch die Dynamik zwischen seinen beiden Hauptfiguren. Washington Poe, der grüblerische Einzelgänger mit Hang zum Zynismus, und Tilly Bradshaw, das exzentrische Datenwunder mit dem entwaffnend kindlichen Blick auf die Welt, sind längst zu einem modernen Ermittlerduo von literarischem Rang avanciert. Ihre Beziehung, ein Wechselspiel aus intellektueller Brillanz, unbeholfener Herzlichkeit und tiefer Loyalität, verleiht dem düsteren Plot eine fast menschlich tröstliche Note. Tillys ungefilterte Kommentare sorgen für erfrischende Momente des Humors, und zugleich zeigt Craven behutsam ihre Entwicklung: Aus der sozial unbeholfenen Analystin der ersten Romane ist eine selbstbewusste, warmherzige Figur geworden, die Poe nicht nur ergänzt, sondern erdet.
Die Auflösung des Falls schließlich – grausam, präzise und emotional zerstörerisch – bestätigt Cravens Ruf als Virtuose des psychologischen Grauens. Sein erzählerisches Timing, die Fähigkeit, Spannung zu rhythmisieren und moralische Ambivalenz mit erzählerischer Klarheit zu verweben, heben ihn weit über das Krimi-Genre hinaus.
Wenn man glaubt, Craven habe seinen kreativen Zenit erreicht, übertrifft er sich selbst. Sein neuer Roman ist ein brillanter Beweis dafür, dass er das Genre nicht nur beherrscht, sondern stetig neu definiert. Wer Poe und Tilly bislang nicht kennt, sollte diese Bildungslücke dringend schließen , denn hier verschmelzen Intelligenz, Spannung und Empathie zu einem Leseerlebnis der besonderen Art.
Eine uneingeschränkte Leseempfehlung und zugleich ein Versprechen: M.W. Craven wird uns auch weiterhin das Fürchten lehren, auf die bestmögliche literarische Weise.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 5. November 2025