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Buchkritik -- Paul Murray -- Der Stich der Biene

Umschlagfoto, Buchkritik, Paul Murray, Der Stich der Biene, InKulturA Paul Murrays Roman „Der Stich der Biene“ spielt in einer namenlosen Stadt im heutigen Irland und zeichnet das Leben der vier Mitglieder der Familie Barnes nach: Dickie, Imelda, Cass und PJ.

Dickie Barnes wächst mit seinem Vater Maurice, seiner Mutter Peggy und seinem Bruder Frank in dieser irischen Kleinstadt auf. Maurice ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und betreibt ein Autohaus und eine Werkstatt. Obwohl sein Leben scheinbar stabil ist, fühlt sich Dickie wie ein Außenseiter in seiner Familie und auch in der kleinstädtischen Gemeinschaft. Frank ist energischer und sportlicher, während Dickie zurückhaltend und introvertiert ist.

Als Dickie sein Zuhause verlässt, um das Trinity College in Dublin zu besuchen, fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben frei. Er erkennt seine Homosexualität und verliebt sich in Willie, seinen Kommilitonen. Gerade als sie ihr gemeinsames Leben beginnen wollen, erfährt Dickie, dass Frank bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.

Dickie kehrt zu Franks Beerdigung nach Hause zurück. Als ihm klar wird, dass seine Eltern und Franks Verlobte Imelda ihn brauchen, beschließt Dickie, seine Beziehung zu Willie und sein Leben in Dublin aufzugeben. Er heiratet Imelda und übernimmt das Familienunternehmen.

Imelda ist von Franks Tod erschüttert. Ihre Kindheit und ihre Jugend war geprägt von einem gewalttätigen Vater und einem Familienleben, das sie und ihre Brüder in Armut und Kriminalität verbrachten. Deshalb betrachtete sie die Ehe mit Frank als ihren einzigen Ausweg aus diesen Verhältnissen. Sein Unfalltod sollte diese Hoffnung zerstören. Nach der Tragödie verlässt sie sich daher darauf, dass Dickie ihr ein Gefühl der Stabilität und Erneuerung gibt und heiratet ihn. Zusammen bekommen sie die Tochter Cass und den Sohn PJ.

Eine allgemeine Wirtschaftskrise lässt Dickies Geschäft immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten gerate. Die Familie gerät daraufhin in Panik. Cass befürchtet, dass ihre Eltern sich ihr Studium nicht mehr leisten können. Sie möchte unbedingt mit ihrer besten Freundin Elaine nach Dublin ziehen und sich als unabhängige junge Frau etablieren. Unterdessen fühlt sich PJ alleingelassen und verwirrt. Die ständigen Streitereien seiner Eltern machen ihm das Leben zu Hause schwer. Er, Cass und Imelda hoffen alle, dass Maurice aus seinem neuen Lebensmittelpunkt in Portugal zurückkehrt und sie finanziell unterstützt.

Als Maurice zurückkommt, stellt er fest, dass das Familienunternehmen in einem schlechteren Zustand ist, als er gedacht hatte. Darüber hinaus erkennt Maurice mithilfe seines neuen Partners Big Mike, Elaines Vater, dass Dickies geschäftliche Probleme daher kommen, dass sein ehemaliger Angestellter Ryszard Kunden betrogen und das Unternehmen bestohlen haben.

Einige Monate zuvor hatte Dickie eine sexuelle Beziehung zu Ryszard. Diese Affäre war eine Ablenkung von Dickies anhaltender Traurigkeit über Willie, seiner unterdrückten Sexualität und seiner unverarbeiteten Trauer über Franks Tod. Eines Tages erpresste Ryszard Dickie und dieser benutze Firmengelder dazu, um Ryszard auszuzahlen, damit dieser keine sexuell eindeutigen Videos davon online stellt.

Um dem Zorn seines Vaters, der Enttäuschung seiner Frau und der Schande seiner Kinder zu entkommen, zieht sich Dickie in den Wald zurück. Zusammen mit seinem Freund Victor beginnt er, einen apokalyptischen Zufluchtsort zu errichten. Er hofft, dass die Welt bald untergeht und alle seine Probleme verschwinden.

Cass verlässt ihr Zuhause, um aufs College zu gehen. Allerdings ist das Leben in Dublin nicht der Traum, den sie sich erhofft hatte. Unterdessen macht sich PJ immer mehr Sorgen um Dickies geistige Gesundheit und das Familienglück. Imelda beginnt ein Verhältnis mit Big Mike. Sie glaubt, dass er sie versteht und hofft, dass er sie aus ihren Schwierigkeiten befreien könnte.

Ryszard taucht wieder auf und erpresst Dickie erneut. Victor sagt Dickie, dass die einzige Möglichkeit für ihn, das Problem zu lösen, darin besteht, Ryszard zu töten. Dickie stimmt zu, da er keine Möglichkeit hat, Ryszard noch einmal auszuzahlen.

In einer stürmischen Nacht lockt Dickie Ryszard in sein Versteck im Wald und will ihn töten. Währenddessen machen sich Cass, PJ und Imelda ebenfalls auf den Weg in den Wald, um Dickie zu finden. Als Dickie ihre Gestalten im Dunkeln näher kommen sieht, glaubt er, Ryszard sei mit Verstärkung angekommen und beginnt zu schießen. Wen er trifft, bleibt allerdings offen.

Wie also lesen, diesen Roman, angesiedelt in der Zeit einer großen Wirtschaftskrise? Als tragische Familiengeschichte? Als folgerichtiges Scheitern von überzogenen Vorstellungen, Hoffnungen und Illusionen? Als Zerstörung einer gut bürgerlichen und scheinbar saturierten sozialen Einheit namens Familie?

All das trifft zu und doch ist dieser Roman weitaus mehr als der Niedergang eines Geschäfts und der daraus folgende finanzielle und soziale Absturz der Familie Barnes.

Murray spielt in seinem 700 Seiten starken Roman mit konventionellen Vorstellungen von Struktur, Form und Sichtweise. Ein Kapitel kommt zudem ohne Interpunktion daher. Er verwendet sowohl die Sichtweise der zweiten als auch der dritten Person sowie die Gegenwarts- und Vergangenheitsformen.

Nicht zuletzt diese bewusste Verletzung der literarischen Geschlossenheit des Romans zeigt das dahinter stehende Motiv der Sprachlosigkeit. Der Verlust der Fähigkeit zur Kommunikation – sprichwörtlich eingetreten nach dem verheerenden Hochwasser, das die Kleinstadt heimgesucht hat – durchzieht den gesamten Roman.

Seien es die immergleichen oberflächlichen Unterhaltungen, der Klatsch und Tratsch der Ehefrauen oder die auf kurze Mitteilungen reduzierte Kommunikation der Jüngeren und die Abwesenheit zwischenmenschlichen Verbalaustausches zwischen den Familienmitgliedern, immer wieder sind es die Missverständnisse mangels konkreter Verständigung.

Seien es die mit rhetorischen Finessen vorgetragenen Reden der Diskutanten an der Universität, die einzig der persönlichen Eitelkeit dienen.

Seien es die Introspektionen der Figuren, die eines immer vermissen lassen, die Interaktion mit der Außenwelt, die sprachliche Auseinandersetzung zwischen den handelnden Personen.

Immer ist es die Abwesenheit von Verbalität in einer sich verändernden Welt.

Murray gelingt es auf bestechende Weise, eines der grundlegenden Probleme modernen Lebens zu thematisieren. Seine Figuren kämpfen verzweifelt darum, ihr menschliches Drama von größeren, existenziellen Schrecken zu trennen: die Rezession, die möglicherweise nie endet; der Mörder in der Stadt nebenan; die Jahrhundertflut, die das Dorf erschüttert. „Nichts war wichtig!“, weil über allem Ungemach der Verlust der Sprache steht und Nebensächlichkeiten die Kommunikation bestimmen.

So erzählt Cass, dass sie, anstatt für Prüfungen zu lernen, ihre Nächte damit verbringt, sich mit ekligen Männern in den schlechtesten örtlichen Kneipen zu treffen. „Alles ging zu Ende“, ein Aufgeben auf breiter Front.

Später denkt Dickie, der damit beschäftigt ist, sein Zuhause „zukunftssicher“ zu machen, über die Überschwemmung nach und fragt sich: „Vielleicht wird es so weitergehen – statt einer endgültigen Katastrophe, eine Reihe von ‚Anomalien‘.“. Jedes Mal dauert es länger, und die Abschnitte dessen, was alle Beteiligten als normales Leben bezeichnen, rücken immer weiter auseinander, bis Ihnen eines Tages klar wird, dass dies jetzt das normale Leben ist.

Die sprachliche Ohnmacht der Figuren, die, gefangen in sich selber, unfähig sind, die anstehenden Veränderungen mitzugestalten werden von Paul Murray mit dystopischer Intensität beschrieben.




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Veröffentlicht am 3. April 2024