Buchkritik -- Barbara Erdmann -- Und weiter fließt die Oder...

Umschlagfoto  -- Barbara Erdmann  --  Und weiter fließt die Oder... Zwischenmenschliches kann, bei entsprechenden familiär-historischen Wurzeln, auch länderübergreifend stattfinden. Sind nicht bereits die Familienbande innerhalb einer Nation geprägt von regionalen Besonderheiten? Der Onkel in Norden Deutschlands betrachtet die Welt aus einem anderen Gesichtspunkt als sein Verwandter im Allgäu. Der Blickwinkel, im wahrsten Sinn der Unterschied zwischen Längen- und Breitengrad, bestimmt nicht unwesentlich unsere Sicht auf die Welt.

Um wie viel mehr Unterschiede muss es sich handeln, wenn man die familiären Spuren in einem anderen Land sucht, dessen Geschichte oft auf tragische Weise mit der des Heimatlands verbunden war. Barbara Erdmann beschreibt in ihrem Buch "Und weiter fließt die Oder..." ihre persönliche Annäherung an längst vergessen Geglaubtes und die Wiederentdeckung Gemeinsamkeiten, die jede politische Grenze überwinden.

Es sind 23 stille Geschichten, in denen die Autorin ihre, stets mit aufmerksamem Blick fürs Detail, gemachten Erfahrungen schildert. Es ist aber auch eine Reise durch die Zeit einer schwierigen Beziehung. Historisch belastet und per politischem Federstrich durch eine nahezu undurchlässige und zuerst nur in einer Richtung zu passierende Grenze, muss erst langsam wieder Vertrauen aufgebaut werden.

Dieses Vertrauen findet seine Basis natürlich auf der familiären Ebene, die auch durch Ideologien nicht zerstört werden konnte. Es ist, wie schon in den anderen Büchern von Barbara Erdmann, die Kraft der Familie, die den von außen einwirkenden Zersetzungsversuchen entgegensteht. Und doch kann auch ein sicherer Hort nicht vor den Verletzungen schützen, die man unweigerlich in Kauf nehmen muss, wenn man seinen Kokon des Selbstschutzes fallen lässt, und sich einem anderen Menschen öffnet. In "Er und Sie" beschreibt die Autorin dieses Scheitern, das Narben in der Seele hinterlässt, auf die für sie typische kurze und unprätentiöse Art, deren Plastizität den Leser jedoch mit einer elementaren Wucht befällt, die das Weiterlesen für einig Augenblicke verhindert.

Die Geschichten von Barbara Erdmann sind im Spannungsfeld zwischen menschlich und allzumenschlich angesiedelt und verlieren niemals das Alltägliche aus den Augen. Die Autorin versteht sich auf das feine Spiel mit den Nuancen, die der Alltag vorzeichnet. Wunderbar beschrieben in "Die Weichenstellung", pointiert erzählt in "Die Würde des Menschen ist unantastbar" und nachdenklich reflektiert in "Falscher Punkt auf dem I".

Dort wo normalerweise nur eine Störung des gewohnten Ablaufs festgestellt wird, wo der Lauf der Dinge unsanft behindert wird, da erkennt die Autorin das Besondere, dessen Bedeutung manchmal erst beim zweiten Blick augenscheinlich wird. Nicht das Trennende definiert die Menschen, sondern vielmehr das, was sie verbindet. In dieser Beziehung spielt es keine Rolle, ob man östlich oder westlich der Oder lebt.




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