Buchkritik -- Jürgen-Thomas Ernst -- Vor hundert Jahren und einem Sommer

Umschlagfoto, Jürgen-Thomas Ernst, Vor hundert Jahren und einem Sommer , InKulturA Ein Märchen wollte Jürgen-Thomas Ernst schreiben und das ist ihm auch gelungen. Manche Leser mögen sich fragen, ob dieses Genre überhaupt noch in unsere seit langem entzauberte Welt passt und es nicht besser wäre, es im Dunkel der Literaturgeschichte zu versenken. All jenen zum Trotz ist der Roman "Vor hundert Jahren und einem Sommer" ein überaus geglückter Versuch, die zeitlos den Menschen betreffenden existentiellen Grundfragen in einem modernen Märchen zu erzählen.

Es ist die Geschichte von Annemie, die, in einer Zeit, die das nicht toleriert, als Kind einer ledigen Mutter geboren wird und, um die "Schande" zu vertuschen, zu Pflegeeltern gebracht wird und dort, zusammen mit Jonathan, ihre Kindheit und ihre Jugend verbringt. Als die Ziehmutter angesichts der fortschreitenden Entwicklung Annemies Eifersucht empfindet, verlässt sie das Dorf der Kirschen und lebt fortan in einer fragilen Existenz.

Als sie unter schrecklichen Umständen schwanger wird, flüchtet sie in den vom Autor verheißungsvoll beschriebenen "Süden", kehrt nach einem schweren Schicksalsschlag jedoch wieder in das Dorf der Kirschen und zu Jonathan zurück.

Der Spleen eines Fabrikanten, auch im Winter Kirschen zu erhalten, ist der Grundstein des wirtschaftlichen Erfolgs von Annemie und Jonathan, denn den beiden gelingt es nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen, dem Unternehmer vor dem fünfzehnten März Kirschen zu liefern, die er pro Stück mit zwei Goldmünzen honoriert. Die materielle Zukunft der jungen Leute scheint gesichert, als ein Krieg ausbricht, der ihre Pläne zerstört.

"Vor hundert Jahren und einem Sommer" ist ein mit oft berührenden Worten geschriebenes Märchen, das den Leser am Leben einer Frau teilhaben lässt, die das Kaleidoskop menschlicher Grundsituationen durchleben muss. Die frühe Trennung von der Mutter wirft Annemie in eine Einsamkeit, die sie schier verzweifeln lässt. Neid und Missgunst anderer Menschen begleiten sie ihr ganzes Leben lang und nachdem sie, jung an Jahren, das Dorf der Kirschen verlassen hat, wartet eine weitere fürchterliche Erfahrung auf sie.

Jürgen-Thomas Ernst verarbeitet diese Urprobleme menschlicher Existenz mit sprachlicher Brillanz und einer Diktion, die, angelehnt an Stil und Ausdruck Grimm`scher Märchen, niemals altbacken erscheint, sondern seinem Roman eine überaus realistische Note verleiht. Dazu kommen seine Landschaftsbeschreibungen, die, man muss es einfach so sagen, den Leser versinken lassen in berauschenden Schwelgereien aus Farbe, Licht und Emotionen.

"Vor hundert Jahren und einem Sommer" von Jürgen-Thomas Ernst ist ein - vollkommen gegen den literarischen Zeitgeist geschrieben - wunderbares modernes Märchen.




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Veröffentlicht am 8. November 2015