Buchkritik -- Sylvain Gouguenheim -- Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel

Umschlagfoto  -- Sylvain Gouguenheim Wenn ein anerkannter Historiker sich erdreistet, eine der herrschenden Lehre entgegengesetzte Meinung zu vertreten und sich somit in Opposition zu arrivierten Geschichtsfälschern stellt, dann muss man um seinen akademischen Ruf besorgt sein. Sylvain Gouguenheim, Professor für mittelalterliche Geschichte, hat gegen den Kodex seiner Zunft verstoßen und seine Thesen für ein breites Lesepublikum zugänglich gemacht.

Seine Aussage lautet, dass, anders als es im Kanon der Mediävisten unisono verlautbart wird, dem Islam bei Weitem nicht die herausragende Rolle bei der Vermittlung des antiken Wissens zukommt. Diese These, die der Autor in seinem Buch Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln des christlichen Abendlandes anhand eines umfangreichen Quellenmaterials belegt, impliziert neben ihrer historischen Aussage ebenfalls eine politische Dimension von großer Tragweite.

Es herrscht nicht nur unter Historikern, sondern auch in den Geschichtsbüchern der allgemeine Konsens, dass die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Antike ausschließlich durch die Vermittlung islamischer Gelehrte den Weg ins mittelalterliche Europa gefunden haben. Dies hält Sylvain Gouguenheim für einen Mythos. Ein Mythos, der zwar gut gepflegt wird, nichtsdestoweniger jedoch historisch inkorrekt ist.

Das christliche Mittelalter war, so der Autor, nicht die Zeit der geistigen Finsternis, aus der es erst durch die intellektuellen Leistungen einer überlegenen islamischen Kultur befreit wurde, sondern er belegt, dass u. a. die aristotelische "Politik" bereits im frühen 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt wurde. Immerhin fast hundert Jahre, bevor die Übersetzertätigkeit im maurisch besetzten Spanien begann. Selbst diese wurde von unter islamischer Herrschaft stehenden Juden und Christen durchgeführt. Auch die heute gern bemühte und oft geradezu beschworene Toleranz des Islam in Bezug auf intellektuellen Austausch zwischen Christen, Juden und Muslimen ist, so Gouguenheim, eher im Bereich einer unhistorischen Schwärmerei anzusiedeln, denn als reale Beschreibung der damaligen realen Machtverhältnisse.

Das Kloster Mont Saint-Michel hat bei der Überlieferung und Übernahme von griechischem Gedankengut eine herausragende Rolle gespielt. Das frühe Christentum und die Mönche des Klosters hatten eine gemeinsame Sprache, die des Griechischen. Zusammen mit dem Mönch Jakob von Venedig, der laut Gouguenheim griechischer Abstammung gewesen ist, sorgte dieses kulturelle Zentrum für die maßgeblichen Übersetzungen in die lateinische Sprache.

Des Weiteren belegt Sylvain Gouguenheim eindeutig, dass der Islam aufgrund der Lehre des Korans einen systemimmanenten Wissensfilter besaß, der dafür sorgte, dass nicht die gesamte Bandbreite antiken Wissens verbreitet werden konnte. Dem islamischen Glauben Nützliches passierte diesen Filter, anderes blieb außen vor und fand keinen Weg in die Übersetzungen. Zumal, und auch dies betont der Autor, den jüdischen und koptischen Gelehrten in Syrien und Byzanz eine große und oft unterschätzte Rolle an den Transformationen antiker Texte zukam.

Der Autor bestreitet nicht die punktuellen Leistungen islamischer Übersetzer, macht jedoch deutlich, dass aus den zum Teil erheblichen Differenzen, die zwischen islamischen und christlichen Vorstellungen lagen, logischerweise auch gravierende Abweichungen in der Adaption und Weitergabe antiker Texte resultierten.

Kulturen durchdringen und beeinflussen sich gegenseitig. Das bestreitet Gouguenheim in keiner Weise. Ihm kommt jedoch das Verdienst zu, den Einfluss und die Auswirkungen islamischer Übersetzungstätigkeit auf das europäische Mittelalter einer Revision unterzogen zu haben. Dass daraus, wie es die historischen Quellen belegen, eine andere Beurteilung der Fakten resultiert, ist evident.

Ärgerlich ist leider die Tatsache, dass der Verlag sich wohl nur zu einer deutschen Veröffentlichung hat bewegen lassen, indem er dem Text von Sylvain Gouguenheim, der ohne Zweifel in bestimmten Kreisen für Aufregung gesorgt hat, einen Beipackzettel von zwei Autoren - Martin Kintzinger und Daniel G. König - angefügt hat. So warnen beide dann auch vor politisch unkorrekten Risiken und Nebenwirkungen - leider wenig wissenschaftlich fundiert.




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