Buchkritik -- James Hannam -- Die vergessenen Erfinder

Umschlagfoto  -- James Hannam  --  Die vergessenen Erfinder Der Begriff Mittelalter wird benutzt, um die Epoche zwischen Antike und Neuzeit zu beschreiben. Obwohl es über Beginn und Ende dieses Abschnitts europäischer Geschichte wissenschaftliche Diskussionen gibt, wird das Mittelalter in der Regel im Zeitraum zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert datiert. Neben der historischen Einordnung dieser Periode hat der Terminus Mittelalter eine Konnotation erfahren, die, im Charakter pejorativ, aus einer historischen Einordnung einen politischen Kampfbegriff formuliert hat. "Finsteres Mittelalter", "Rückfall in mittelalterliche Methoden" und ähnliche Formulierungen soll neben einer abwertenden Beurteilung über einen Zeitraum, in dem vorgeblich die Kirche dominierte und den Fortschritt hemmte, auch der jeweils eigene Standpunkt als modern und fortschrittlich herausgehoben werden.

James Hannam zeigt in seinem Buch Die vergessenen Erfinder, dass das Mittelalter bei Weitem nicht so barbarisch und wissenschaftsfeindlich war, wie es sich im Bewusstsein der Allgemeinheit widerspiegelt. Sein in England bereits viel beachtetes Buch liegt jetzt auch in der deutschen Übersetzung von Katrin Krips-Schmidt vor. Es ist das Verdienst des Sankt Ulrich Verlags aus Augsburg, dieses Buch, dass die Fehlinterpretationen und historischen Verzerrungen des politisch oft missbrauchten Terminus Mittelalter korrigiert, einem deutschen Lesepublikum vorzustellen.

Das Mittelalter ist, so Hannam, die eigentliche Wiege der modernen Wissenschaft. Das Bestreben die Natur zu erkennen, daraus Regeln abzuleiten und damit bestimmte Gesetzmäßigkeiten zu erstellen, ist bis heute die gängige Praxis des Wissenschaftsbetriebs. Dass diese Form der Naturerkenntnis von der Kirche nicht nur erwünscht, sondern sogar gefördert wurde, ist zwar nicht unbedingt im Wissen der Allgemeinheit verankert, aber nichtsdestoweniger ein historisches Faktum. Dass die Institution Kirche sich im Mittelalter dem Fortschritt entgegengestellt hat, ist zwar ein weitverbreitetes Vorurteil, historische jedoch nicht zu belegen.

Zusätzlich zu der Tatsache, dass die Klöster eine wesentliche Rolle bei der Bewahrung und Übersetzung griechischer und arabischer Texte spielten, so war es gerade der christliche Glaube daran, dass Gott ein sinnvolles Universum geschaffen hat und der Mensch dieses Sinns teilhaftig werden sollte. Die Kirche war also vielmehr Förderin neuer Erkenntnisse als deren Unterdrückerin.

Natürlich gab es Irrtümer und Rückschritte. Daraus resultierte jedoch gerade der Fortschritt. Es mussten die Theorien der Wirklichkeit angepasst werden. Ein gravierendes Resultat dieser Anpassung war z. B. die Erkenntnis, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Der lang anhaltende Einfluss der aristotelischen Physik wurde sukzessive zugunsten brauchbarerer Modelle aufgegeben.

Der Titel des Buches Die vergessenen Erfinder ist dann auch keinesfalls eine Übertreibung seitens des Autors, sondern eine im Ergebnis nüchterne, im Duktus aber begeisternde Darstellung einer oft zu Unrecht gescholtenen und missverstandenen Epoche. So besaßen die überall in Europa sich gründenden Universitäten ein beachtliches Maß an Unabhängigkeit und Freiheit. Der Meinungsaustausch und die räumliche Flexibilität der Scholaren und ihrer Magister hatten für die damalige Zeit bereits gesamteuropäische Dimensionen.

James Hannam hat durchaus recht, wenn er behauptet, dass die Renaissance, die nach allgemeingültigem Urteil der Ursprung der Moderne war, in Wirklichkeit wissenschaftlich und erkenntnistheoretisch ein Rückschritt gegenüber den Errungenschaften des Mittelalters darstellte. Indem sie die Ergebnisse des mittelalterlichen Denkens zugunsten antiker Philosophie und Naturerkenntnis in der Regel nicht wahrnehmen wollte, legte sie den Grundstein zu einer bis heute währenden Ignoranz den erreichten Fortschritten gegenüber dieser Epoche.

Natürlich, und das betont Hannam auch, fanden die Erkenntnisse und Erfindungen der mittelalterlichen Intellektuellen keinen unmittelbaren Zugang in die Lebenswelt der normalen Menschen. Deren Leben war hart und in der Regel entbehrungsreich. Der Erwerb und die Benutzung der in dieser Zeit erfundenen Brille lag weit außerhalb ihrer Lebensrealität. Wissenschaftlicher Fortschritt und technische Innovationen stehen nicht automatisch denjenigen zur Verfügung, in deren Epoche sie gemacht werden. Wer in historischen Dimensionen denkt, dem ist diese Tatsache geläufig.

James Hannam hat ein spannendes Buch über eine nicht weniger spannende Epoche europäischer Geschichte geschrieben.




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