Buchkritik -- Stephan Harbort -- 100 Prozent tot

Umschlagfoto  -- Stephan Harbort  --  100 Prozent tot Verbrechen machen Schlagzeilen und sind ein einträglicher Aufmacher für die Medien. Schreckliche Verbrechen produzieren noch schrillere mediale Aufgeregtheit und bedienen in der Regel ebenfalls das voyeuristische Bedürfnis der Massen. Die Tat und der Täter erregen eine Aufmerksamkeit, deren Halbwertzeit sich proportional zur Grausamkeit des Verbrechens verhält. Die öffentliche Neugier ist vorerst befriedigt und wartet bereits auf die nächste, schlimmere Gewalttat. Allenfalls tauchen noch einmal das Ergebnis der Gerichtsverhandlung und die Höhe des Strafmaßes in der Presse auf, jedoch bereits deutlich hinter anderen Nachrichten angeordnet. Die Medien gehen danach zum Tagesgeschäft über. Der Straftäter verschwindet im Gefängnis und das öffentliche Gedächtnis verliert sich im pausenlosen Informationsangebot. Nur die unmittelbar von der Tat Betroffenen, Opfer und deren Angehörige, sind oft für den Rest ihres Lebens traumatisiert.

Der Autor Stephan Harbort, Kriminalkommissar und international anerkannter Experte für die Entwicklung von Fahndungsmethoden zur Überführung von Gewaltverbrechern, beschäftigt sich seit Langem mit der Psyche von Serienmördern und den familiären und gesellschaftlichen Faktoren, die zu deren Straftaten geführt haben. Niemand, zumindest in Deutschland dürfte intimere Kenntnisse von Gewalttätern besitzen als der auch einem breiten Publikum bekannte Kriminalist.

In seinem aktuellen Werk 100 Prozent tot rekapituliert er ein Verbrechen, das im Jahr 1982 in Berlin geschah und aufgrund der beiden Opfer, zwei junge Frauen aus Norwegen, auch international für Aufsehen sorgte. Als Täter nahm die Polizei wenig mehr als zwei Jahre später den 23-jährigen Günther Jacoby fest. 2009 führte Stephan Harbort mehrere Interviews mit dem Täter, deren Ergebnisse er in diesem Buch veröffentlicht.

Wie bei den vorangegangenen Publikationen des Autors fällt auch hier wieder die Zurückhaltung des Fragenden auf. Zurückhaltung in dem Sinn, dass es Harbort nicht um die Befriedigung voyeuristischer Interessen des Lesers geht, sondern um die nüchterne und emotionslose Schilderung der Tat aus der Erinnerung des Täters heraus. Dazu benutzt er sowohl Polizei- als auch Justizakten, in der Hauptsache jedoch lässt er den Täter zu Wort kommen.

Wer sich die mediale Aufbereitung der Verbrechen von Serienmördern in Filmen und Romanen vergegenwärtigt, der ist immer wieder überrascht, wie banal sich die von Stephan Harbort befragten Täter präsentieren. Niemals wird der Leser mit einer, in Filmproduktionen so gern dargestellten, intellektuell herausragenden Gestalt konfrontiert. Die schrecklichen Verbrechen in der Realität werden dann auch folgerichtig von durchschnittlichen Menschen begangen und nicht von universell gebildeten Individuen nach dem fiktiven Vorbild eines Hannibal Lecter.

Diese Banalität, die sowohl den Täter, als auch seine Tat in der persönlichen reflexiven Erinnerung, hier im Fall Günther Jacoby, umgibt, ist das eigentlich Erschreckende. Die Willkür der Opferwahl, dieser eine Moment, der über Tod oder Leben entscheidet, die nahezu emotionslose Schilderung der Verbrechen, all das ist für den Leser nur schwer zu ertragen und dennoch muss er akzeptieren, dass die Tat für den Verantwortlichen nur eine Trivialität darstellt. Nach der Befriedigung eines, wie auch immer zu bezeichnenden Triebes, taucht der Täter wieder in seiner normalen Gewöhnlichkeit ab.

Stephan Harborts Gespräche mit Günther Jacoby zeigen dem Leser die permanente Anwesenheit einer Destruktivität, die nur auf den richtigen Augenblick wartet, um zu ihrem Ausbruch zu gelangen. Er vermeidet jedoch bewusst die Antwort auf die Frage nach den Schuldigen, die für Menschen wie Jacoby die falschen Weichen gestellt haben. Falsches Verhalten der Eltern? Schuld des Arztes, der eine gefährliche Hirnhautentzündung nicht erkennt? Eine aus dieser Fehldiagnose resultierende Anomalie des sozialen Verhaltens? Fragen, deren Beantwortung sich als ebenso schwer, wie auch immer als unzureichend erweisen muss.

Polizei und Justiz haben ihre Arbeit, die Gesellschaft vor Individuen wie Günther Jacoby zu schützen, gemacht. Vordergründig wurde ein Täter gefasst und verurteilt. Stephan Harbort hat den Versuch unternommen, die psychischen Gründe darzustellen, die diesen Menschen zu seinen Taten geführt haben. Nicht die Frage nach Schuld, die in erster Linie nur das Gericht interessiert, und Sühne, die allenfalls von den Angehörigen der Opfer eingefordert werden kann, soll geklärt werden, sondern die Geschichte, die hinter dieser Destruktivität steht. Diese darzustellen, ist dem Autor wieder einmal gelungen.

Leider sind, als kleiner Wermutstropfen und nicht dem Autor anzulasten, im Klappentext der vorliegenden Ausgabe zwei unterschiedliche Verhaftungstermine von Günther Jacoby genannt. Korrekt ist der 21. Juni 1984 als Tag der polizeilichen Verhaftung.




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