Buchkritik -- Keiichiro Hirano -- Das Leben eines Anderen

Umschlagfoto, Buchkritik,  Keiichiro Hirano, Das Leben eines Anderen, InKulturA Wer oder was ist das, was eine Person „Ich“ nennt? Was macht dieses „Ich“ aus? Spiegelt sich darin meine Identität oder ist es nur eine Hülle, die sich beliebig mit Inhalt füllen lässt? In „Das Leben eines Anderen“, der erste Roman des japanischen Autors Keiichiro Hirano, der sowohl ins Englische als auch ins Deutsche übersetzt wurde, geht der Autor dieser Problematik nach.

Die Geschichte dreht sich um Kido, einen Anwalt, der davon besessen ist, in einem Fall von Identitätsdiebstahl zu ermitteln: Nachdem eine zweifache Mutter ihren Mann bei einem Holzfällerunfall verloren hat, findet sie heraus, dass ihr Gatte nicht der war, der er vorgab zu sein, dass er sich als jemand anderes ausgegeben hatte.

Eine der Fragen, die sich durch den gesamten Roman zieht, ist die, wie neue Entwicklungen, Ereignisse und Erkenntnisse die Interpretation und Bewertung der Vergangenheit durch die Figuren verändern. Wie der Autor es einmal selber erklärte, wird die Frage in einer ästhetischen Art und Weise behandelt, die an eine Fuge erinnert, mit leichten Veränderungen des Themas im Verlauf der Geschichte.

Wir lernen die Familie des Toten kennen, aber auch Menschen aus seiner Vergangenheit und ebenfalls die Familie und Kollegen des Anwalts, der in dieser Geschichte, besser gesagt, in diesem psychologischen Noir zu einer Art Detektiv wird, und, selber in einer Krise stehend, mit seiner eigenen Identität und einer lieblos und stumpf gewordenen Ehe kämpft, während er versucht, das Rätsel zu lösen.

„Das Leben eines Anderen“ ist im Wesentlichen eine Erkundung der Identität, das Rätsel im Zentrum ist der nun plötzlich fehlende Zusammenhang zwischen einer nun toten Person und seiner Geschichte. Die Menschen, die um den Toten trauern, dachten, sie würden ihn kennen, aber plötzlich hat die tote Person keinen Namen und keine nachweisbare Identität.

Mit zunehmender Obsession stürzt sich Kido in den mysteriösen Fall, um die Nachwirkungen der Entdeckung für die Witwe und ihre Kinder, eines davon, die junge Tochter, ist das Kind des Toten, zu verarbeiten. Je mehr er über die Vergangenheit des Mannes herausfindet, desto größer wird für ihn die Versuchung, es diesem gleichzutun. Da auch der Anwalt jemand ist, der mit seiner eigenen Identität im Zwiespalt ist, fasziniert und erschreckt ihn die Geschichte des Mannes. Zum Teil liegt das an seiner koreanischen Herkunft, denn obwohl er eingebürgerter japanischer Staatsbürger ist, leidet er immer noch unter dem Rassismus gegenüber Zainichi, koreanischstämmigen Japanern.

Keiichiro Hirano Erzähltempo ist gemächlich und lässt seinen Figuren viel Zeit, ihre individuelle Sicht auf den Verstorbenen wiederzugeben. So ist es kein Wunder, dass am Ende des Romans weniger die Auflösung der Frage, wer der Tote eigentlich gewesen ist steht, sondern vielmehr die des Lesers und der Leserinnen. Und die lautet: „Würde ich gerne meine Identität tauschen, alles hinter mir lassen und ein neues Leben beginnen?“




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Veröffentlicht am 26. Juni 2022