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Seit über drei Jahrzehnten gehört Michael Connelly zu jenen Erzählern, die das moralische Rückgrat des amerikanischen Kriminalromans neu vermessen haben. Seine Figuren, vom stoischen Harry Bosch bis zum gewitzten Mickey Haller, verkörpern ein Ethos zwischen Pflichtbewusstsein und Zweifel, zwischen Gesetzestreue und der unstillbaren Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Connelly schreibt keine simplen Whodunits, sondern urbane Tragödien, die den Puls von Los Angeles in jeder Zeile spürbar machen. Mit „Der Inselcop von L.A.“ wagt er nun eine geografische wie erzählerische Verschiebung: weg vom neonflirrenden Moloch der Großstadt, hin zu einer scheinbar stillen Insel, auf der die Laster des Festlands nur besser getarnt sind.
Die Polizei von Santa Catalina, jener winzigen, sonnengetränkten Insel vor der kalifornischen Küste, wird von einer Handvoll Einheimischer und einigen aufs Eiland verbannten Polizisten aus Los Angeles betreut; Beamten, die aus den unterschiedlichsten Gründen das Festland hinter sich lassen mussten. Einer von ihnen ist Detective Sergeant Stilwell, der Held in Michael Connellys neuer Romanreihe „Der Inselcop von L.A.“. Einst in einen internen Konflikt verwickelt, der seine Karriere beschädigte, hat Stilwell auf Catalina, wie die Insel im Volksmund heißt, eine Art zweites Leben gefunden. Er genießt die salzige Brise, den frischen Fang des Tages, das eigenwillige Grün der Hügel und die träumerische Abgeschiedenheit, die ihm ein stilles Refugium gewährt. Eine attraktive Freundin, eine stabile Kollegenschaft, ein überschaubarer Alltag, es scheint, als habe sich der Gefallene in der Verbannung ein kleines Paradies geschaffen.
Doch die Idylle trügt. Als am Freitag vor dem Memorial-Day-Wochenende die Leiche einer Frau im Hafen treibt, reißt ein einziger Mord das fragile Gleichgewicht der Insel aus den Angeln. Schnell zeigt sich, dass der Bürgermeister mehr um das touristische Image besorgt ist als um Wahrheit und Gerechtigkeit. „Auf dieser Insel geboren und aufgewachsen“, wie er mit spitzem Unterton betont, denkt er weniger an das Opfer als an die Einnahmen. Während er an den Plänen für ein monströses Riesenrad feilt, Symbol einer Kommerzialisierung, die das natürliche Antlitz Catalinas bedroht, drängt er Stilwell, den Fall diskret zu behandeln, ja, am besten zu vergessen. Doch wer Connelly kennt, weiß, dass seine Helden nicht zu jenen gehören, die bequeme Wege gehen.
Trotz des Drucks seiner Vorgesetzten auf dem Festland und der eindringlichen Bitten, den Fall abzugeben, setzt Stilwell unbeirrt seine Ermittlungen fort. Er folgt Spuren, die von der glitzernden Oberfläche der Inselgesellschaft tief in ihre Schatten führen, und enthüllt dabei mehr über sich selbst, als ihm lieb ist. Connelly entfaltet diesen Konflikt, Pflicht gegen Loyalität, Wahrheit gegen Opportunismus, mit jener erzählerischen Präzision, die sein Werk seit Jahrzehnten auszeichnet.
Unter den Kriminalschriftstellern unserer Zeit bleibt Michael Connelly der Maßstab, an dem sich andere messen lassen müssen. Seine Romane sind meisterlich gebaut: kein Thema wird preisgegeben, keine falsche Fährte wirkt beliebig. Der Leser schreitet Seite für Seite mit seinen Ermittlern, spürt die Härte des Berufes, die moralische Ambivalenz, den zähen Kampf um Gerechtigkeit in einer Welt, die selten gerecht ist. „Der Inselcop von L.A.“ fügt sich nahtlos in diese Tradition ein, ein atmosphärisch dichter, klug konstruierter Roman, dessen Handlung ebenso fesselnd wie präzise verästelt ist. Connelly erweist sich erneut als Meister der Topografie: So wie er einst Los Angeles mit fast mythischer Intensität zum Leben erweckte, so zeichnet er nun das Inselpanorama mit feinem Pinselstrich, die salzverkrusteten Boote im Hafen, die Touristen, die in der Sonne verbrennen, das trügerische Schweigen der See.
Und doch: So überzeugend der Plot, so stimmungsvoll die Szenerie, die Figuren bleiben hinter dem erzählerischen Anspruch zurück. Stilwell, dieser melancholische Einzelgänger im Exil, ist zwar ein typischer Connelly-Ermittler, doch ihm fehlt jene innere Widersprüchlichkeit, die Harry Bosch oder den „Lincoln Lawyer“ Mickey Haller so unverwechselbar macht. Sein innerer Monolog bleibt flach, seine seelischen Schatten zu blass, um wirklich zu fesseln. Auch die Nebenfiguren wirken schematisch: Seine Freundin Tash Dano, klug, unabhängig und schön, erfüllt dramaturgische Erwartungen, ohne sie zu überschreiten. Sobald die Handlung eine Frau in Not verlangt, verliert sie ihre Eigenständigkeit, eine Schwäche, die Connelly sonst mit sicherer Hand zu vermeiden wusste.
Der lokale Gangsterboss Oscar „Baby Head“ Terranova wiederum scheint einer Castingliste für Nebenrollen entstiegen; sein Name ist das Originellste an ihm. Am lebendigsten gestaltet ist noch Stilwells ehemaliger Partner und jetziger Antagonist Rex Ahearn, ein widerwärtig glaubwürdiges Beispiel jenes selbstgerechten Beamten, der sich der Bürokratie beugt und seine moralische Bequemlichkeit mit Zynismus tarnt.
Doch trotz dieser charakterologischen Schattenrisse bleibt „Der Inselcop von L.A.“ ein glänzender Auftakt zu einer neuen Reihe. Catalina Island besitzt als Schauplatz enormes erzählerisches Potenzial, jene Mischung aus paradiesischer Kulisse und latentem Verhängnis, die großen Krimis ihr Gepräge verleiht. Sollte Connelly in den kommenden Bänden die psychologische Tiefe seiner Figuren so sorgfältig ausarbeiten, wie er es mit der Geografie seiner Schauplätze tut, könnte hier eine Serie entstehen, die sich zu seinen Klassikern gesellt.
Ein Roman also, der Lust auf mehr macht, nicht, weil er perfekt ist, sondern weil er verheißungsvoll unvollkommen bleibt.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 10. Oktober 2025