Buchkritik -- Samir Kassir -- Das arabische Unglück

Umschlagfoto  -- Samir Kassir  --  Das arabische Unglück "Araber zu sein macht heutzutage keine Freude. Manche fühlen sich verfolgt, andere hassen sich selbst." Mit diesen Sätzen beginnt das schmale Buch des am 2. Juni 2005 ermordeten libanesischen Journalisten Samir Kassir. Er zieht darin ein Resümee des gegenwärtigen arabischen Selbstverständnisses und dessen Wurzeln in Geschichte und Politik.

Für ihn befindet sich die arabische Welt seit Jahrzehnten in einer selbstgewählten Opferrolle, aus der es auszubrechen gilt, um einen selbstbewußten Dialog mit dem Westen führen zu können. Auf 93 Seiten beschreibt der Autor die Fehler und Versäumnisse, aber auch die bisherigen Erfolge der arabischen Kultur, die zweifelsohne im Westen nicht genügend zur Kenntnis genommen wurden.

Kassir kritisiert zu Recht die Mystifizierung eines "Goldenen Zeitalters" in der Vorstellungswelt der Araber und der Versuch, anhand dieser Fiktion aktuelle Politik zu betreiben. Dabei kommt jedoch nur, so der Autor, ein Ohnmachtsgefühl zu Tage, welches wieder zur Opferrolle führt. Ein Circulus vitiosus, den es gilt zu unterbrechen.

Dabei hat der Islam arabischer Prägung - und darum geht es Kassir hauptsächlich - in seiner Geschichte eine bemerkenswerte Reihe von Höhepunkten hinter sich. Man denke nur an die 700 Jahre Herrschaftszeit der Mauren auf der iberischen Halbinsel. Zu einer Zeit, als sich über "Resteuropa" die dunkle Zeit des Mittelalters legte, lebten kulturell hochstehend und wissenschaftlich fortgeschritten drei Religionen - Muslime, Christen und Juden - zwar unter maurischen Herrschaft, doch friedlich miteinander.

Der Autor stellt dem gegenwärtigen rückwärts gewandten arabischen Denken die "Nahda", die arabische Renaissance" entgegen. Diese Strömung innerhalb der arabischen Geistesgeschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigte die Bereitschaft zu einer Veränderung und noch wesentlicher, die aktive Gestaltung der innerarabischen Gesellschaften in Konkurrenz zur westlichen Welt, jedoch mit deutlich arabischen Merkmalen.

Die aktuelle Situation, so Kassir, ist jedoch geprägt von zwei wesentlichen Faktoren. Zum einen die als Bedrohung empfundene Macht des Westens und die autoritären Strukturen innerhalb der arabischen Staaten selber, die eine Veränderung schier unmöglich machen. Dies ist der Grund für die aktuelle Re-Islamisierung nicht nur der arabischen Gesellschaftssysteme. Diese, der Autor nennt es eine Flucht in den Islam, wird gleichzeitig als Machtinstrument benutzt, um die Masse der Gläubigen zu instrumentalisieren. An diesem Punkt wird Kassir eindeutig. Er vergleicht die Ablehnung des Fortschrittsgedankens mit dem Faschismus und versteht den Universalanspruch des religiösen Denkens als Rückschritt in der arabischen Geschichte.

Der Autor übt ebenfalls zu Recht Kritik an der Kolonialpolitik Europas, die später von den USA fortgesetzt wurde. Auch im Verhältnis der arabischen Staaten zu Israel bezieht Kassir klar Stellung. Das ändert jedoch wenig an der Wucht seiner Aussagen über die autoritäre Herrschaft arabischen Potentaten, die Missachtung von Menschenrechten und das Fehlen von demokratischen Strukturen.

Die Kernaussage Kassirs besteht jedoch darin, das es den arabischen Staaten gelingen muß, das Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen zu überwinden. Eine Rückbesinnung auf die durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die politischen Wirren des 1. Weltkriegs unterbrochene "Nahda" und deren Fortschrittsbestreben könnte dabei von großem Nutzen sein. Sie könnte dafür sorgen, daß die arabischen Nationen anfangen eine neue Perspektive zu entwickeln, anstatt in der selbstgewählten Opferrolle zu verharren.

Ob es allerdings jemals zu dieser Rückbesinnung und damit auch zu einer Neuinterpretation des arabischen Selbstwertgefühls kommt, ist mehr als fraglich. Zu groß ist der Einfluß reaktionärer Kräfte innerhalb der arabischen Welt. Immerhin ist das "arabische Unglück" der beste Schutz für die bestehenden politischen Systeme, die nur sich nur allzugern mit den Lehren des Koran konform erklären. Der Status quo ist immer ein mächtiger Gegner, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht. Das ist nicht nur in arabischen Ländern der Fall.

Sollte doch einmal innerhalb der arabischen Welt ein Um-, bzw. Neudenken beginnen, dann wird es auch das Vermächtnis von Samir Kassir sein.




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