Buchkritik -- Patrícia Melo -- Die Stadt der Anderen

Umschlagfoto, Buchkritik, Patrícia Melo, Die Stadt der Anderen, InKulturA São Paulo ist eine der wichtigsten Metropolen Brasiliens und sogar ganz Lateinamerikas. Wirtschaftlich gesehen ist São Paulo das wirtschaftliche Herz Brasiliens und ein bedeutendes Finanzzentrum. Es beherbergt zahlreiche nationale und internationale Unternehmen, darunter Banken, Finanzdienstleister, Technologieunternehmen und Produktionsfirmen. Die Stadt ist bekannt für ihre Vielfalt an Industrien, darunter Automobilherstellung, Textilien, Lebensmittelverarbeitung, Chemie und Maschinenbau. Die Börse von São Paulo ist die wichtigste Börse Brasiliens und spielt eine Schlüsselrolle im Finanzmarkt des Landes.

Kulturell gesehen ist São Paulo ein Schmelztiegel verschiedener Ethnien und Kulturen. Die Stadt beherbergt eine reiche kulturelle Szene mit zahlreichen Theatern, Museen, Galerien, Musikveranstaltungen und Festivals. São Paulo ist bekannt für seine lebendige Musikszene, insbesondere für Samba und Bossa Nova, sowie für seine vielfältige Küche, die Einflüsse aus der ganzen Welt aufweist. Die Stadt ist auch ein wichtiges Bildungszentrum mit renommierten Universitäten und Forschungseinrichtungen.

Insgesamt spielt São Paulo eine entscheidende Rolle in der brasilianischen Wirtschaft und Kultur und prägt maßgeblich die Entwicklung des Landes.

Die soziale Struktur von São Paulo ist geprägt von einer großen sozioökonomischen Ungleichheit, die typisch für viele brasilianische Städte ist. Auf der einen Seite gibt es wohlhabende Viertel mit Luxuswohnungen, exklusiven Einkaufszentren und erstklassigen Bildungseinrichtungen. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Armenviertel, in denen die Lebensbedingungen oft schwierig sind, mit unzureichender Infrastruktur, begrenztem Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie hoher Kriminalität.

Die Mittelschicht in São Paulo ist zwar vorhanden, aber im Vergleich zu den extremen Polen der reichen und armen Bevölkerung oft schmal und die soziale Mobilität ist begrenzt.

Für die Einen, die Wenigen, also eine glitzernde und erfolgversprechende Metropole, für die Anderen, die Vielen, eine Arena, in der jeden Tag ums nackte Überleben gekämpft werden muss. Die Vielen, das sind z. B. Chilves, der Freund von Jéssica, der, wie so viele andere auch, vom Sammeln des Wohlstandsmülls lebt, um diesen an Händler, die immer bestrebt sind, den Erlös zu drücken, zu verkaufen. Da ist ZJ, der Knastboss, ein selbsterklärter Aufklärer und Heilsbringer. Farol Baixo, ein Krimineller, der mit korrupten Polizisten zusammenarbeitet, die es besonders auf die Transfrau Glenda abgesehen haben. Dito, der Jungdealer und Opfer seines eigenen Angebots. Der Venezolaner Seno Chacoys, aus seinem Heimatland nach Brasilien geflüchtet, nur um zu erkennen, dass hier nichts besser ist. Douglas, der Totengräber und Iraquitan, der Wortsammler und von der kulturellen Schickeria als neuer Stern am Literaturhimmel gefeiert.

Sie alle eint, dass ihre Lebensverhältnisse derart sind, dass es keinen weiteren Abstieg mehr geben kann, denn sie befinden sich bereits ganz unten. Ihr Alltag wird bestimmt von Drogenkriminalität, Prostitution, Diebstahl, aber auch von Solidarität und, im Fall von Glenda, Mitgefühl und Nächstensorge.

Wer noch träumen kann und wem der harte Überlebenskampf noch Kraft lässt, der will weg von der Straße, weg von den behelfsmäßigen Schlafstätten, die immer in Gefahr sind, von anderen, ebenso armen Menschen geplündert zu werden. Träume von ausreichender und gesunder Nahrung, sauberem Wasser, ärztlicher Versorgung und Schutz vor Polizeigewalt. Unerfüllbar, doch notwendig zum geistigen Durchhalten, die Kraft zur täglichen Aufnahme des Kampfes ums nackte Überleben.

Es soll ein Traum bleiben, so erzählt es Patrícia Melo in ihrem Roman „Die Stadt der Anderen“, der das Leben und den Kampf ums Dasein dieser Menschen beschreibt. Fern von Glitzer der Reichen, für die diese Menschen zwar arbeiten, jedoch niemals den Aufstieg in deren Kreise schaffen, ist es ein Mikrokosmos der Armut und der Hoffnungslosigkeit, dessen Perpetuierung mit fast logischer Konsequenz in nahezu jede Form von Kriminalität zwingt.

Es sind, mit Ausnahme der korrupten Polizisten, deren kriminelle Energie systemimmanent ist, keine schlechten Menschen, denen die Autorin eine Stimme verleiht, sondern sie sind und werden Opfer der Verhältnisse, in denen sie zu leben gezwungen sind.

Patrícia Melos neuester Roman prangert mit seinem provokanten Text die Apathie und Gleichgültigkeit an, die die aktuelle brasilianische Gesellschaft kennzeichnen. Ein Brasilien, das von seiner sich wiederholenden Geschichte der Vernachlässigung, Ungleichheit und sozialen Gewalt heimgesucht wird.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 23. März 2024