Leseprobe -- Ehrhardt Bödecker -- Preußen, eine humane Bilanz*

Bildung und Wissenschaft
Wohl die bedeutendste weit über die Grenzen Preußens hinausgehende humane Leistung des brandenburg-preußischen Staates war die Förderung von Bildung, Erziehung und Wissenschaft. Nach einer einzigartigen Bildungs- und Ausbildungsgeschichte erklomm Preußen- Deutschland zum Ende des 19. Jahrhunderts den internationalen Gipfel der Wissenschaft, es wurde unumstritten das wissenschaftlich führende Land in der Welt. Das schrieb der jüdisch-amerikanische Professor Dr. David Nachmansohn aus New York im Jahre 1982. Die Welt hat von Preußen-Deutschland wissenschaftliches Arbeiten gelernt. Nicht englisch, sondern deutsch war bis 1960 die allgemeine Sprache der Wissenschaft. Es war das international übliche Verständigungsmittel unter den Wissenschaftlern. Mit seinem hohen Bildungsniveau hing der Aufstieg Deutschlands zur führenden Industrienation zusammen. Deutschland beherrschte 87"/o des Chemie- Weltmarktes. Mit synthetischen Farben und Fasern, mit Kunststoffen, mit Arznei und Düngemitteln aus Kohle, Wasser, Kalk und Luft stießen die deutschen Wissenschaftler die Tür zu einem neuen Zeitalter auf, dem Zeitalter der Chemie.

Am 28. September 1717 hatte Friedrich Wilhelm I. die allgemeine Schul- und Unterrichtspflicht in Preußen eingeführt. So wurde Preußen einer der ersten Staaten mit dem Anspruch auf allgemeine Volksbildung, weit vor Frankreich 1880 und England 1884. Schon vorher, nämlich im Jahre 1695, hatte der pietistische Pfarrer August Hermann Francke in Glaucha bei Halle eine Schule für Waisen und arme Kinder, die Franckeschen Stiftungen, gegründet. Die Schule lebte von Spenden und war finanziell vom Staat unabhängig. Unter dem Leitmotiv „Gott zur Ehr und zu des Landes Besten" erfuhren arme wie reiche Schüler und Schülerinnen (!) die beste Ausbildung und Erziehung. Neben der Unterweisung in Lesen, Schreiben und Rechnen war die Erziehung auf Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Bescheidenheit, Eigenständigkeit, Menschlichkeit und Pflichterfüllung gerichtet. Tugend und Lebensstil sind nicht angeboren, sondern sie müssen erlernt werden, das war ein Grundsatz von Christian Thomasius, dem bedeutenden Rechtsgelehrten aus Halle und einem der Väter der europäischen Aufklärung. Das lateinische Wort „sapere aude" — „habe den Mut zum eigenen Urteil" — war das Ziel der preußischen Erziehung, denn es führte zur Selbständigkeit im Handeln. Mit der Behauptung, die Preußen seien zum Kadavergehorsam erzogen worden, verfälschen die Sozialisten die preußische Geschichte.

Halle und seine beiden berühmten Einrichtungen, nämlich die Universität und die Franckeschen Stiftungen, bildeten sozusagen die Kaderschmiede der preußischen Offiziere und Beamten: Die geistigen Grundlagen der preußischen Tugenden befinden sich hier in Halle, insbesondere bei Christian Thomasius, Christian Wolff, beide Väter der europäischen Aufklärung, und bei August Hermann Francke. Alle drei stimmten in der Forderung von Christian Wolff überein: „Man muß der Obrigkeit den Gehorsam verweigern, wenn man Unrecht tun müßte, beispielsweise einen unschuldigen Menschen totschlagen. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen." Und Thomasius forderte Ungehorsam, wenn Handlungen verlangt würden, die gegen die allgemeinen und religiösen Sitten verstoßen.

Die nationalsozialistischen Konzentrationslager widersprachen daher dem preußischen Geist so fundamental, daß man sich schon aus diesem Grunde über den Mangel an historischem Wissen und über das geistige Niveau von Professoren oder Politikern wundern muß, die eine Verbindung zwischen Preußen und dem Nationalsozialismus herzustellen versuchen.

*S. 72-74
Mit freundlicher Genehmigung des Olzog Verlags

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