Buchkritik -- Stefan Rehder -- Grauzone Hirntod

Umschlagfoto  -- Stefan Rehder  --  Grauzone Hirntod Die Lebenserwartung eines westlichen Menschen ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Für ein in der Bundesrepublik im Jahr 2010 geborenes Kind beträgt sie statistisch 77 Jahre. Diese Steigerung ist nicht zuletzt den verbesserten medizinischen Möglichkeiten im Bereich Diagnostik und Prävention geschuldet. Ebenfalls möglich gemacht wurde die Erhöhung des zu erwartenden Lebensalters durch die Erfolge in der Transplantationsmedizin. Beides, gestiegene Lebenserwartung und die Möglichkeiten der Organverpflanzung haben zu der Situation geführt, dass der Zahl der Organempfänger diejenige der potentiellen Spender bei Weitem übersteigt.

Die Frage, wann einem Menschen ein Organ entnommen werden darf, regelt seit dem Jahr 1997 das deutsche Transplantationsgesetz. Darin ist als Kriterium, bzw. als Zeitpunkt zur Entnahme von Organen der Hirntod definiert. Nachdem dieser von zwei unabhängigen und zudem an der Transplantation nicht beteiligten Medizinern festgestellt wird, dürfen einem sterbenden Menschen - der jedoch bereits im Vorfeld dieser Maßnahme zugestimmt haben muss - Organe entnommen werden.

Wie groß der Bedarf an transplantierbaren Organen ist, zeigt eine Gesetzesinitiative, an der u. a. die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und die Bayerische Landesärztekammer teilhaben, die den Versuch unternimmt, die bisherige Lösung der ausdrücklichen und schriftlichen Zustimmung eines potentiellen Organspenders zu seinen Lebzeiten durch die sog. Widerspruchsregelung zu ersetzen. Bei dieser muss jeder, der sich zu keiner Organentnahme bereit erklärt, dies durch einen ausdrücklichen Widerspruch verbieten. Man kann diese Regelung zynisch nennen, Tatsache bleibt, dass zwar viele Menschen grundsätzlich zu einer Organspende bereit wären, sich dazu jedoch noch nicht - durch einen Organspendeausweis - dazu entschlossen haben.

Da diese Regelung bereits in zahlreichen Ländern wie z. B. Polen, Luxemburg, Portugal oder Spanien in Kraft getreten ist, ist es im Zuge der angestrebten gesetzlichen Angleichung im EU-Raum sehr wahrscheinlich, dass diese Widerspruchslösung auch in das deutsche Transplantationsgesetz Eingang finden wird.

Doch ist der in diesem Gesetz als Zeitpunkt zur Entnahme von Organen eines Sterbenden festgelegte Hirntod wirklich das letztlich gültige Kriterium, um darüber zu entscheiden, wann ein Mensch den schmalen Grat zwischen Leben und Tod überschritten hat und ab dem keine Aussicht mehr darauf besteht, diesen Patienten mit Aussicht auf Besserung seines Zustandes am Leben zu erhalten?

Stefan Rehder hat sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. In seinem Buch Grauzone Hirntod geht er der Frage nach, ob der Tod eines Organs - hier des Gehirns - automatisch mit dem Tod des ganzen Körpers gleichgesetzt werden darf. Dieser Zeitpunkt besitzt neben der juristischen und ethischen Dimension ebenfalls eine physische Brisanz, denn er ist der letzte Moment, an dem die zu entnehmenden Organe für einen potentiellen Empfänger noch nutzbar sind.

Ist der Hirntod als ein zur Entnahme von Organen definierter Zeitpunkt medizinisch, ethisch und wissenschaftlich zu vertreten oder gibt es berechtigte Zweifel daran? Der Autor lässt in seinem Buch Befürworter und Kritiker des Status quo zu Wort kommen. Sachlich lässt Rehder die verschiedenen Standpunkte Revue passieren. Eher moderierend als apodiktisch gibt er der dem Leser die Gelegenheit die Argumente der konträren Positionen nachzuvollziehen.

Bei der Lektüre kommen dann auch in der Tat Zweifel auf, ob die gängige Praxis - Hirntod als Zeitpunkt des Todes eines Menschen - aufrechtzuerhalten ist. Zahlreiche Beispiele für die Rekonvaleszenz von für Hirntod erklärten Menschen mahnen dringend zu einer Neuinterpretation des Augenblicks, der die Lebenden von den Toten trennt.

Solange nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, dass der Hirntod auch tatsächlich den Tod eines Menschen bedeutet, wäre die Politik gut beraten, die zukünftigen Entscheidungen nicht nur bezüglich des Hirntods als Zeitpunkt für die Organentnahme korrekt abzuwägen.

Die Fortschritte der Humanmedizin und der Genetik sind so schwindelerregend, man denke nur an Stammzellenforschung oder die Präimplantationsmedizin, dass es dringend geboten scheint, die sich daraus ergebenden ethischen Implikationen zu diskutieren. Nicht alles, was medizintechnisch oder genetisch möglich ist, ist auch akzeptabel. Das Buch Grauzone Hirntod von Stefan Rehder ist auf dem aktuellen Stand der Diskussion. Das Fazit des Autors lautet: "Soll es mit rechten Dingen zugehen, dürfen daher bis auf weiteres nur Patienten lebenswichtige Organe entnommen werden, welche die sicheren Todeszeichen aufweisen." Beim Abwägen aller im Buch vertretenen Argumente kann man ihm da nur zustimmen.




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