Buchkritik -- Jana Döhring -- Stasiratte

Umschlagfoto Stasiratte Wer seit seiner Geburt in einem Land lebt, das Freiheit und Demokratie verkörpert, in dem Rede- und Meinungsfreiheit herrscht, das dem Individuum vor dem Staat einen großen Entfaltungsspielraum gewährleistet, für den ist es kaum vorstellbar, im welchem Umfang eine Diktatur ihre Bürger drangsaliert, einschüchtert und manipuliert. Angst vor dem System, in einem demokratisch legitimierten Staat undenkbar, ist einer der verantwortlichen Mechanismen, die ein totalitäres Regime benutzt, um sich der Menschen zu bedienen und sie für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

Wie gelingt es einer Diktatur, sich der Menschen zu bemächtigen? Gibt es für die Betroffenen eine Möglichkeit, sich der Willkür und dem Machtanspruch zu entziehen ohne persönliche, gesellschaftliche und soziale Konsequenzen befürchten zu müssen?

Jana Döhring schreibt in dem Buch Stasiratte über ihre eigene Verstrickung mit dem System DDR und bringt damit dem Leser ein Stück deutsche Zeitgeschichte in Erinnerung, das, zumindest für den "West"-sozialisierten Menschen, auch Fragen bezüglich der eigenen Integrität aufwirft.

Die Protagonistin erzählt vom Leben in der ehemaligen DDR. Als junge Frau im Ost-Berlin der Achtzigerjahre bekommt sie die für DDR-Bürger wohl einmalige Chance, in einem Devisenhotel zu arbeiten. Natürlich wurde mit dieser Anstellung ein Wunsch Realität und beeindruckt vom Ost-Berliner Trubel, lebt sie ein Leben, von dem die meisten der damaligen DDR-Bürger wohl nur träumen konnten.

Westliche Geschäftsleute sorgten in der Hotelbar für ein internationales Flair und, nicht zu vergessen, für die von der DDR so dringend benötigten Devisen. Folgt man der etwas holprigen, dadurch jedoch absolut authentischen Diktion der Autorin, so hat sich für sie mit diesem Arbeitsplatz ein Traum erfüllt, dessen Konsequenzen allerdings sogar noch Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR persönliche Auswirkungen haben sollten.

Nun gibt es in einer Diktatur keine individuellen Vorteile und Vergünstigungen zum Nulltarif. Das musste auch Jana Döhring erfahren. Eines Tages nahm die Staatssicherheit mit ihr Kontakt auf, um sie als "Informelle Mitarbeiterin", als IM zu gewinnen.

Die Ehrlichkeit, mit der die Autorin über dieses Szenario spricht, die Bedenken, aber auch die Aussicht bzw. die Hoffnung auf eventuelles Entgegenkommen des Staates bei den fragwürdigen, auf alle Fälle nicht gerade systemkonformen Geschäften des Lebenspartners, das dem Ego schmeichelnde Gefühl bezüglich der vom System bekundeten besonderen Bedeutung der Person Döhrings und, nicht zuletzt, vielleicht auch ein Gefühl von Macht, all das bildet eine Melange aus individueller Verstrickung und politischem Missbrauch durch das System.

Außenstehende und nicht direkt von der Diktatur des Sozialismus Betroffene sollten mit Urteilssprüchen und vorgefassten Meinungen vorsichtig sein. Die Grenze zwischen freiwilliger Mitarbeit, die auch auf dem Gefühl beruht, persönlich etwas Wichtiges zur Sicherheit des Staates beizutragen und dem politischen Allmachtsanspruch der Diktatur und dessen Durchdringung der ganzen Gesellschaft ist fließend.

Stasiratte von Jana Döhring ist ein Lehrstück über die Verführbarkeit des Individuums. Niemand sollte sich immun dagegen wähnen.




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