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Yrsa Sigurdardóttirs neuester Kriminalroman „Blut" etabliert sich als ein meisterhaft komponiertes Werk nordischer Kriminalliteratur, das durch seine vielschichtige Erzählstruktur und psychologische Tiefe besticht. Die isländische Autorin, die bereits mit ihren vorherigen Werken internationale Anerkennung erlangte, präsentiert mit diesem Roman eine komplexe Erzählung, die drei scheinbar disparate Handlungsstränge zu einem fesselnden Ganzen verwebt.
Die Exposition des Romans erfolgt durch die Entdeckung menschlicher Überreste in Reykjavik – ein Fund, der als narrativer Ankerpunkt fungiert und von Beginn an eine Atmosphäre des Unheimlichen und Rätselhaften etabliert. Diese archäologische Entdeckung bildet das thematische Fundament, auf dem sich die weiteren Handlungsebenen entfalten.
Im Zentrum der ersten Erzählebene stehen die Polizisten Týr und Karó, deren anfängliche Enttäuschung über die Zuteilung eines vermeintlich banalen Nachbarschaftsstreits die Ironie des Schicksals unterstreicht. Während sie sich lieber mit dem mysteriösen Skelettfund beschäftigen würden, entwickelt sich ihr scheinbar triviales Ermittlungsverfahren zu einem komplexen Mordfall, der ihre gesamte Aufmerksamkeit fordert. Sigurdardóttir nutzt diese Wendung geschickt, um die Unvorhersagbarkeit des Lebens und die Art zu illustrieren, wie sich das Außergewöhnliche oft im scheinbar Alltäglichen verbirgt.
Parallel dazu entfaltet sich die Geschichte der jungen Köchin Gunndís, deren Biographie von einer tragischen Familiengeschichte überschattet wird. Als Tochter eines Schiffskochs, der posthum für eine maritime Katastrophe verantwortlich gemacht wurde, trägt sie die Last einer Vergangenheit, die sie nicht selbst verschuldet hat. Ihr Entschluss, in die beruflichen Fußstapfen ihres verstorbenen Vaters zu treten und als Köchin auf einem Fischereifahrzeug zu arbeiten, zeugt sowohl von Mut als auch von dem Bedürfnis nach Wiedergutmachung oder zumindest nach einem Verständnis der Ereignisse, die ihr Leben geprägt haben.
Die Atmosphäre an Bord des Trawlers entwickelt sich zu einem Mikrokosmos der Bedrohung und Paranoia. Sigurdardóttir versteht es meisterhaft, die Enge und Isolation des Schiffes als dramaturgisches Element zu nutzen. Die unerklärlichen Ereignisse, denen Gunndís ausgesetzt ist, und ihre wachsende Befürchtung, dass jemand aus der Besatzung Rache für die damalige Tragödie nehmen könnte, schaffen eine Spannung, die weit über konventionelle Thriller-Mechanismen hinausgeht.
Besonders bemerkenswert ist die Art, wie die Autorin das Kochbuch des verstorbenen Vaters als symbolisches Element einsetzt. Dessen unerwartetes Auftauchen in Gunndís' Kabine fungiert nicht nur als Katalysator für die Handlung, sondern auch als Metapher für die Vergangenheit, die sich hartnäckig weigert, begraben zu bleiben. Dieses literarische Motiv unterstreicht die zentrale Thematik des Romans: die Art, wie vergangene Ereignisse die Gegenwart heimsuchen und wie Schuld und Vergeltung über Generationen hinweg wirken können.
Die narrative Struktur des Romans zeichnet sich durch ihre geschickte Verschränkung der drei Handlungsebenen aus. Während die Leser zunächst vor dem Rätsel stehen, wie die verschiedenen Erzählstränge miteinander verbunden sind, entwickelt sich allmählich ein komplexes Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten. Die Identität der menschlichen Überreste und deren Verbindung zu den anderen Handlungsebenen wird zu einer treibenden Kraft, die den Leser durch das gesamte Werk führt.
Sigurdardóttir demonstriert erneut ihre außergewöhnliche Fähigkeit, Spannung nicht durch oberflächliche Action oder sensationelle Wendungen zu erzeugen, sondern durch die subtile Erforschung menschlicher Psychologie und die Darstellung der dunklen Abgründe, die sich hinter scheinbar normalen Fassaden verbergen. Ihre Charakterzeichnung ist von bemerkenswerter Tiefe geprägt, wobei sie sowohl die Protagonisten als auch die Nebenfiguren mit authentischen Motivationen und glaubwürdigen Schwächen ausstattet.
Die maritime Kulisse Islands wird nicht nur als geografischer Hintergrund genutzt, sondern als integraler Bestandteil der Erzählung etabliert. Das Meer mit seiner Unberechenbarkeit und seinen Gefahren spiegelt die emotionalen Untiefen der Charaktere wider und verstärkt die Atmosphäre der Bedrohung und Ungewissheit, die den gesamten Roman durchzieht.
Während sich der Nachbarschaftsstreit als vergleichsweise geringfügiges Problem erweist, überschlagen sich die Ereignisse an Bord des Trawlers dramatisch. Die zunehmende Verwicklung der Polizisten Týr und Karó in diesen Fall, der schließlich weitere Todesopfer fordert, unterstreicht die Art, wie sich scheinbar getrennte Lebenswege unvorhersehbar kreuzen können.
„Blut" etabliert sich als ein Werk, das die Grenzen des konventionellen Kriminalromans erweitert und sich als psychologisch nuancierte Studie über Schuld, Vergeltung und die Macht der Vergangenheit präsentiert. Sigurdardóttirs literarische Meisterschaft zeigt sich in ihrer Fähigkeit, komplexe menschliche Emotionen und Motivationen in eine fesselnde Erzählung zu verweben, die sowohl intellektuell anspruchsvoll als auch emotional bewegend ist.
Der Roman besticht durch seine atmosphärische Dichte und die Art, wie die Autorin die raue Schönheit der isländischen Landschaft und Seefahrertradition als Kulisse für eine Geschichte nutzt, die universelle Themen der menschlichen Existenz berührt. Es ist ein Werk, das lange nach der Lektüre in der Erinnerung des Lesers nachhallt und zum Nachdenken über die komplexen Verflechtungen von Vergangenheit und Gegenwart anregt und damit eine uneingeschränkte Empfehlung für Liebhaber anspruchsvoller Kriminalliteratur.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 27. September 2025