Buchkritik -- Jörg Reinhardt -- Acht Laternen

Umschlagfoto, Jörg Reinhardt, Acht Laternen, InKulturA Die Autoren von guten Kurzgeschichten müssen auf wenigen Seiten das erreichen, wozu die Verfasser von Romanen hunderte von Seiten Gelegenheit haben und manchmal leider ihr Ziel aus den Augen verlieren. Aus diesem Grund war ich äußerst skeptisch, als ein Bekannter mich auf die "Stadtrandgeschichte" "Acht Laternen" von Jörg Reinhardt aufmerksam machte. Gerade weil das literarische Medium Kurzgeschichte sich auf das Wesentliche in Bezug auf Spannung, innere Logik, stringente Handlung und, besonders wichtig, das in den Bann schlagen des Lesers konzentrieren muss, gehört es zu den am schwierigsten zu meisternden Sparten der Literatur.

Jörg Reinhardts Kurzgeschichte über die Panikattacken eines 60-jährigen Mannes, der nach einem feuchtfröhlichen Klassentreffen sich als letzter auf den Weg nach Hause macht und unbedingt, will er nicht die Nacht auf einem kalten und zugigen Bahnhof verbringen, die letzte S-Bahn erreichen muss, ist ein Pageturner der besonderen Art. Sein Weg vom Lokal bis zum Bahnhof führt entlang eines Weges, der, unzureichend beleuchtet von acht Laternen, der Schauplatz eines brutalen Verbrechens an einem Mädchen gewesen ist.

Selten habe ich eine Kurzgeschichte gelesen, die mich so in den Bann gezogen hat wie diese. Ein im Normalfall kurzer Weg wird sukzessive zu einem Martyrium der Angst und der Selbstzweifel, aber auch der Erkenntnis, wie dünn die Oberfläche, wie zerbrechlich der Firnis der sog. Zivilisation ist. Je größer die, und der Leser leidet dank der sprachlichen Exzessivität des Autors, die bei aller emotionaler Zuspitzung immer im Bereich des "das kann jedem passieren" bleibt, Angst des Mannes vor vermeintlichen Angriffen aus der Dunkelheit wird, desto mehr steigt dessen Aggressionspegel und er fühlt sich, zumindest verbal, dazu in der Lage, mit einem spontanen Ausbruch von Gewalt auf mögliche Bedrohungen zu reagieren. Der Leser mag sich bewusst machen, dass die Rede von einem der Rente nahen und untrainierten Mann ist, der im Ernstfall wohl eher das typische Opfer darstellt und weniger die Figur eines spontan Helden.

"Acht Laternen" ist in nuce die Beschreibung moderner Paranoia angesichts einer immer mehr sich entfremdenden und gewalttätigen Gesellschaft. Die Ängste des Mannes sind dann auch ausschließlich Projektionen als einzige Antwort auf das sich als immer brutaler erweisende sozialen Umfeld. Da damit gleichzeitig jedoch auch die Auflösung einstmals als festgefügt verstandener Entitäten wie berufliche Sicherheit und privates Glück stattfindet, bleibt, zynisch ausgedrückt, nur noch, und der Mann wird es am Ende genau so konstatieren, die Möglichkeit, weiter in den gewohnten Abläufen zu handeln, da ansonsten das Chaos und die Last der individuellen Freiheit drohen würde.

Der Mann könnte, als es ihm gelungen ist, sich vor einer Meute betrunkener Skins in ein Taxi zu retten, einen anderen (Lebens)Weg einschlagen. Rechts und links lockt die mögliche Freiheit...




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Veröffentlicht am 4. Januar 2016