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Buchkritik -- Amat Levin -- Black History

Umschlagfoto, Buchkritik, Amat Levin, Black History, InKulturA In den Archiven der europäischen Geschichtsschreibung herrscht ein eigentümliches Schweigen. Es ist nicht die Stille fehlender Dokumente, sondern vielmehr das systematische Verstummen jener Stimmen, die in den kolonialen Begegnungen als „Andere" konstruiert wurden. Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak hat dieses Phänomen als „epistemische Gewalt" bezeichnet, jene subtile, aber umso wirkungsvollere Form der Machtausübung, die nicht primär durch physische Unterdrückung, sondern durch die Kontrolle über Wissensproduktion und Deutungshoheit operiert. Was nicht erzählt wird, existiert im kollektiven Gedächtnis nicht. Was nicht erinnert wird, kann keine politische Wirkmacht entfalten.

Der schwedisch-gambische Journalist und Autor Amat Levin hat sich dieser epistemischen Gewalt mit einem bemerkenswerten Projekt entgegengestellt. Sein 2022 bei Natur & Kultur (Stockholm) veröffentlichtes und im August 2025 in deutscher Sprache erschienenes Buch „Black History" ist weit mehr als eine weitere Publikation zur afrikanischen Geschichte. Es ist der Kern eines transmedialen Volksbildungsprojekts, das auf Instagram begann, sich über Podcasts und Vorträge ausbreitete und schließlich in einem über 400 Seiten starken Werk kulminierte, das für den prestigeträchtigen Augustpreis nominiert wurde und 2023 mit dem populärwissenschaftlichen Preis von Natur & Kultur ausgezeichnet wurde. Doch die eigentliche Bedeutung dieses Projekts erschließt sich erst, wenn man es im Kontext jener theoretischen Debatten verortet, die seit den 1980er Jahren die Anthropologie und Ethnologie grundlegend transformiert haben.

„Allzu oft wird die Geschichte Afrikas aus der Perspektive europäischer „Entdecker“ erzählt‟, schreibt Levin in seiner programmatischen Einleitung. Diese scheinbar simple Feststellung verweist auf ein fundamentales Problem der modernen Historiographie: Die Geschichte der Kolonisierten wurde überwiegend von den Kolonisatoren geschrieben. Was wir über Afrika, die Karibik oder die pazifischen Inseln zu wissen glauben, ist zu großen Teilen durch die Brille jener europäischen Reisenden, Missionare, Händler und Kolonialbeamten gefiltert, die im Zuge der imperialen Expansion diese Regionen „entdeckten", ein Verb, das bereits die Anmaßung enthält, diese Orte hätten vor ihrer europäischen „Entdeckung" nicht existiert.

Der deutsche Philosoph Friedrich Hegel formulierte diese Sichtweise 1837 mit brutaler Offenheit, als er schrieb, dass schwarze Afrikaner die „wilde und ungezähmte Form" der Menschheit repräsentierten. Selbst die offensichtlichen Hochkulturen des antiken Ägypten wurden durch die pseudowissenschaftliche Konstruktion der „hamitischen Rasse" nachträglich „europäisiert", um sie mit der rassistischen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts kompatibel zu machen. Diese diskursiven Strategien waren keine bloßen intellektuellen Verirrungen, sondern konstitutiv für das koloniale Projekt selbst: Sie legitimierten die Unterwerfung ganzer Kontinente durch die Fiktion einer zivilisatorischen Mission.

Levins Projekt setzt genau hier an. Er schreibt explizit, dass er „schwarze Menschen zu Subjekten in ihren eigenen Leben und ihrer Zeit machen" möchte. Diese Formulierung ist theoretisch hochgradig aufgeladen, auch wenn sie in einer zugänglichen Sprache daherkommt. Sie verweist auf die zentrale Forderung der Subaltern Studies, jener in den frühen 1980er Jahren von Ranajit Guha und anderen indischen Historikern initiierten Denkschule, die eine „Geschichte von unten" einforderte. Die Subalternen, ein Begriff, den Antonio Gramsci für jene gesellschaftlichen Gruppen prägte, die von hegemonialen Machtstrukturen marginalisiert werden, sollten nicht länger als passive Objekte historischer Prozesse erscheinen, sondern als handelnde Subjekte mit eigener Agency sichtbar gemacht werden.

Methodisch verfolgt Levin einen Ansatz, der sich bewusst von der Linearität traditioneller Geschichtsschreibung absetzt. Statt einer chronologischen Makro-Erzählung, die von den frühen Hochkulturen über den Sklavenhandel bis zur Dekolonisierung führt, präsentiert er ein Kaleidoskop aus hunderten von Mikro-Geschichten. Diese reichen von der südafrikanischen Frau Mazahr Makatemele, die 1860 nach Schweden kam und deren Grabstein in Kalmar noch heute an eine der ersten schwarzen Bewohnerinnen des Landes erinnert, über die jamaikanische Maroon-Anführerin Nanny, die im 18. Jahrhundert gegen die britische Kolonialherrschaft kämpfte, bis zu zeitgenössischen Figuren wie der malawischen Aktivistin Theresa Kachindamoto, die gegen Kinderehen kämpft und den Spitznamen „The Terminator" trägt.

Diese kaleidoskopische Methode ist keine arbiträre ästhetische Entscheidung, sondern eine epistemologische Positionierung. Sie verweigert sich der Versuchung einer „großen Erzählung", die unweigerlich Hierarchien etabliert und bestimmte Ereignisse als zentral, andere als peripher markiert. Stattdessen schafft Levin ein rhizomatisches Netzwerk von Geschichten, das die Vielfalt, Komplexität und Nicht-Linearität historischer Erfahrung abbildet. Dieser Ansatz steht in der Tradition dessen, was der Anthropologe Clifford Geertz als „thick description" bezeichnet hat: die dichte Beschreibung konkreter Situationen und Biografien, aus denen sich ein tieferes Verständnis kultureller Bedeutungssysteme erschließt.

Amat Levin verzichtet auf emotionale Überhöhung und pathetische Gesten, lässt stattdessen die Fakten für sich sprechen, und gerade diese Nüchternheit verleiht den erzählten Schicksalen ihre Wucht. Die Gewalt der Sklaverei, die Brutalität der Kolonialherrschaft, aber auch die Resilienz und Kreativität des Widerstands werden nicht dramatisiert, sondern dokumentiert.

Eine der interessantesten Spannungen in Levins Werk liegt in seiner Positionierung zum Afrozentrismus. Einerseits ist „Black History" zweifellos ein afro-zentriertes Projekt: Es stellt Afrika und die afrikanische Diaspora ins Zentrum der Betrachtung und fordert damit die eurozentrische Perspektive heraus, die jahrhundertelang die Geschichtsschreibung dominiert hat. Andererseits distanziert sich Levin explizit von jenen Formen des Afrozentrismus, die in essentialistische Mythenbildung umschlagen.

In einem aufschlussreichen Artikel auf seiner Substack-Plattform setzt sich Levin kritisch mit den Thesen Ivan Van Sertimas auseinander, der in seinem 1976 erschienenen Buch „They Came Before Columbus" behauptete, westafrikanische Seefahrer hätten bereits vor Kolumbus Amerika erreicht. Levin geht differenziert mit dieser Behauptung um: Er erklärt, warum die Idee nicht von vornherein absurd ist, legt aber gleichzeitig dar, warum die Beweislage unzureichend ist und Van Sertimas Argumentation methodische Mängel aufweist. Diese kritische Haltung ist bemerkenswert, denn sie zeigt, dass Levin nicht an einer mythischen Verklärung afrikanischer Geschichte interessiert ist, sondern an einer faktenbasierten Korrektur eurozentrischer Verzerrungen.

Diese Position entspricht dem, was man als „kritischen Afrozentrismus" bezeichnen könnte, eine Perspektive, die afrikanische Narrative und Errungenschaften ins Zentrum rückt, ohne dabei in essentialistische Gegenerzählungen zu verfallen. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah hat in seinem Werk „In My Father's House" vor den Gefahren eines „umgekehrten Rassismus" gewarnt, der lediglich die Vorzeichen ändert, aber die binären Strukturen kolonialen Denkens reproduziert. Levins Ansatz vermeidet diese Falle, indem er Komplexität zulässt: Er thematisiert etwa die Beteiligung afrikanischer Eliten am transatlantischen Sklavenhandel ebenso wie die internen Konflikte in postkolonialen Staaten wie Liberia, wo befreite amerikanische Sklaven ein System errichteten, das die Segregationslogik der Südstaaten reproduzierte.

Ein zentrales Anliegen Levins ist es, die Geschichte nicht als reine „Elendsgeschichte" zu erzählen, sondern eine literarisch-historische Dynamik zu entfalten, indem er die zahllosen gewalttätigen Aufstände gegen die Unterdrückung dokumentiert. Diese dialektische Perspektive ist theoretisch anspruchsvoll: Sie erkennt die strukturelle Gewalt kolonialer und postkolonialer Herrschaftssysteme an, ohne die Kolonisierten auf die Rolle passiver Opfer zu reduzieren.

Die Geschichte Haitis ist hierfür paradigmatisch. Die französische Kolonie Saint-Domingue war im 18. Jahrhundert die profitabelste Kolonie der Welt, ein Reichtum, der auf der brutalsten Form der Sklavenwirtschaft basierte. Die haitianische Revolution (1791-1804) war nicht nur der einzige erfolgreiche Sklavenaufstand der Geschichte, sondern auch die erste antikoloniale Revolution in der westlichen Hemisphäre. Doch die Geschichte endet nicht mit der Befreiung: Haiti wurde durch französische Reparationsforderungen ökonomisch erdrosselt, von den USA wiederholt militärisch besetzt und von korrupten Eliten ausgeplündert. Levin zeigt, wie die blutige Vergangenheit die gegenwärtige Armut erklärt, nicht als deterministische Kausalität, sondern als komplexes Geflecht historischer Pfadabhängigkeiten.

Ähnlich verfährt er mit der Geschichte Schwedens. Die schwedische Kolonialgeschichte wird oft als marginal abgetan, die Kolonie Sankt Barthélemy war klein und wirtschaftlich unbedeutend. Doch Levin zeigt, dass schwedische Sklavenhalter sich durch besondere Grausamkeit auszeichneten und dass schwedisches Eisen für Gewehrläufe und Fußfesseln im Sklavenhandel eine lukrative Industrie darstellte. Diese Befunde sind für das schwedische Selbstbild, das sich gerne als moralisch überlegen inszeniert, unbequem, und gerade deshalb notwendig.

Levins Projekt ist auch ein Beispiel für das, was man als „öffentliche Anthropologie" oder „Public Anthropology" bezeichnet: die bewusste Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Formate, die ein breites, nicht-akademisches Publikum erreichen. Das Instagram-Konto @svarthistoria, mit dem das Projekt 2018 begann, hat heute eine große Reichweite und funktioniert als niedrigschwelliger Zugang zu komplexen historischen Zusammenhängen. Der Podcast, der auf Schwedisch und Englisch verfügbar ist, ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung. Das Buch schließlich bietet die umfassendste Darstellung.

Diese transmediale Strategie ist theoretisch interessant, weil sie die Frage nach den Bedingungen der Wissensproduktion und -zirkulation aufwirft. Michel Foucault hat in seinen Arbeiten zur Macht-Wissen-Beziehung gezeigt, dass Wissen nie neutral ist, sondern immer in Machtstrukturen eingebettet. Die akademische Wissensproduktion ist durch institutionelle Zugangsbarrieren, Fachsprachen und Publikationslogiken gekennzeichnet, die bestimmte Gruppen systematisch ausschließen. Levins Projekt durchbricht diese Barrieren, indem es eine „Volksbildung" (schwedisch: folkbildning) betreibt, ein in Skandinavien tief verwurzeltes Konzept emanzipatorischer Bildung, das auf die Demokratisierung von Wissen zielt.

Allerdings gibt es auch Spannungen. So liest sich das Buch teilweise wie aneinandergereihte Wikipedia-Einträge an und das ist ein grundsätzliches Dilemma: Die Zugänglichkeit, die durch kurze, faktenorientierte Kapitel erreicht wird, geht möglicherweise auf Kosten analytischer Tiefe und theoretischer Reflexion. Levin verzichtet weitgehend auf explizite theoretische Einbettung, die postkolonialen, subalternen und dekolonialen Perspektiven, die sein Werk strukturieren, werden nicht als solche ausgewiesen. Für ein akademisches Publikum mag dies eine Leerstelle sein; für die breite Leserschaft ist es vermutlich eine Stärke.

Letztlich ist „Black History" ein Projekt der Erinnerungspolitik. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat in seiner Theorie des kollektiven Gedächtnisses gezeigt, dass Erinnerung immer sozial konstruiert ist: Was eine Gesellschaft erinnert und wie sie es erinnert, ist Ergebnis von Aushandlungsprozessen, in denen Macht eine zentrale Rolle spielt. Die dominante Geschichtsschreibung ist das Gedächtnis der Herrschenden; alternative Geschichtsschreibung ist ein Akt des Widerstands.

Levins Werk interveniert in das schwedische und europäische kollektive Gedächtnis, indem es Leerstellen markiert, Verdrängtes sichtbar macht und marginalisierte Perspektiven zentriert. Es ist kein Zufall, dass die letzten Kapitel des Buches Frauen gewidmet sind, von der kapverdischen Sängerin Cesária Évora bis zur malawischen Aktivistin Theresa Kachindamoto. Diese Fokussierung auf Frauen am Ende des Buches ist eine bewusste Geste, die auf die Intersektionalität von Unterdrückungsformen verweist: Rassismus und Sexismus sind nicht additive, sondern sich gegenseitig verstärkende Herrschaftsmechanismen.

Amat Levins „Black History" ist aus ethnologischer und anthropologischer Perspektive eine bedeutende und notwendige Intervention. Es ist weniger eine akademische Monographie als vielmehr ein erfolgreiches Experiment angewandter postkolonialer Historiographie. Das Werk füllt eine eklatante Lücke im öffentlichen Geschichtsbewusstsein und leistet einen wichtigen Beitrag zur Dekolonisierung des kollektiven Gedächtnisses.

Die methodischen Entscheidungen, der kaleidoskopische Aufbau, die biografische Fokussierung, die zugängliche Sprache, sind nicht Ausdruck mangelnder wissenschaftlicher Ambition, sondern bewusste Strategien der Wissensdemokratisierung. Die Kritik, das Buch ähnele einer Sammlung von Wikipedia-Artikeln, verkennt die kuratorische und narrative Leistung, die darin besteht, aus einer Fülle verstreuter Quellen ein kohärentes und politisch relevantes Mosaik zu schaffen.

Zugleich wirft das Projekt produktive Fragen auf: Wie lässt sich die Spannung zwischen Zugänglichkeit und analytischer Tiefe produktiv gestalten? Welche Rolle spielen digitale Medien in der Transformation anthropologischen Wissens? Und wie kann öffentliche Anthropologie zur Dekolonisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse beitragen?

Levins Werk bietet keine abschließenden Antworten auf diese Fragen, aber es demonstriert eindrucksvoll, dass die Rückeroberung der Geschichte möglich ist, und dass sie im digitalen Zeitalter neue Formen annehmen kann. In einer Zeit, in der rechtspopulistische Bewegungen in Europa und Nordamerika versuchen, die Geschichte umzuschreiben und koloniale Narrative zu rehabilitieren, ist ein solches Projekt nicht nur wissenschaftlich relevant, sondern politisch dringend geboten. „Black History" ist ein Akt der Gegen-Erinnerung, der zeigt, dass Geschichte nie abgeschlossen ist, sondern immer wieder neu erzählt und erkämpft werden muss.




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Veröffentlicht am 8. Dezember 2025