Buchkritik -- Christopher de Bellaigue -- Die islamische Aufklärung

Umschlagfoto, Buchkritik, Christopher de Bellaigue, Die islamische Aufklärung, InKulturA "Was ist Aufklärung?", diese Frage stellt im Jahr 1784 Immanuel Kant um sie sofort zu beantworten. "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

Was, zumindest in europäischen Ländern folgte, waren viele Jahre der Kämpfe zwischen Kirche, Thron und der sich im Entstehen befindenden bürgerlicher Welt, an deren vorläufigem Ende sich Gesellschaften entwickelten, in denen sowohl die Religion als auch die Monarchien ihren Einfluss verloren und an deren Stelle mehr oder weniger demokratische Systeme entstanden. Doch so wie es aktuell den Eindruck erweckt, ist die Phase der Aufklärung, die strikte Trennung zwischen Glauben und Politik, noch lange nicht vorüber, denn es machen sich Kräfte ans Werk, die eben diesen Einfluss der Religion auf die Gesellschaft wieder hoffähig machen wollen.

Es ist der Islam, der sich gerade in Europa anschickt mehr und mehr gesellschaftliches Terrain zu erobern und ausgerechnet die Länder, in denen die Aufklärung lange und zum Teil blutig verlaufen ist, scheinen sich in einer politischen Rückwärtsbewegung zu befinden, die aus Gründen falsch verstandener Toleranz die errungenen Freiheiten eine nach der anderen zur Disposition stellt.

Kritiker des Islam werfen ihm zu Recht vor, sich noch in den Denktraditionen einer Wüstenreligion des 7. Jahrhunderts zu bewegen und weisen auf eine, im Gegensatz zum Westen, nicht stattgefundene Aufklärung hin. Islam, das bedeutet immer noch eine monolithische Struktur, die Religion, Gesellschaft und Recht vereint und die Scharia, das "religiöse Gesetz" und angeblich von Allah im Koran offenbart, die nicht hinterfragbare, die nicht kritisierbare Grundlage der Umma, der globalen islamischen Gemeinde darstellt.

Der Journalist Christopher de Bellaigue hat jetzt ein Buch mit dem Titel "Die islamische Aufklärung" veröffentlicht, in dem er die Theorie vertritt, dass der Westen, der allzu oft eine, wie der Autor es nennt, "selbstgefällige Sicht" auf die arabische Welt besitzt, die Bemühungen islamischer Ländern ab dem 18. Jahrhundert - er führt Ägypten, die Türkei und den Iran an – um Freiheit, Gleichheit und Demokratie nicht zur Kenntnis nehmen will.

Die ersten Begegnungen zwischen Orient und Okzident waren von Gewalt und Blutvergießen geprägt und die unter der Fahne des Christentums geführten Kreuzzüge wurden just im Juli 1789 mit dem napoleonischen Feldzug in Ägypten wieder ins kollektive Gedächtnis des Islam gerufen. Dieses Land hatte inzwischen mit dem einst prosperierenden Machtzentrum das Nordafrika beherrscht hatte, nichts mehr zu tun und die französischen Truppen, denen Wissenschaftler folgte, hatten ein leichtes Spiel mit den gegnerischen Kräften, deren Kampftechniken der modernen Kriegskunst nichts entgegenzusetzen hatten, ein leichtes Spiel.

Das war für gläubige Moslems eine Demütigung ohnegleichen, denn propagiert doch der Koran, das "heilige Buch" des Islam, eben dieser sei allen anderen Religionen überlegen. Das Gewehr- und Artilleriefeuer belehrte sie eines Besseren. Dieser Moment war, so Bellaigue, die Initialzündung, die die arabischen Länder in das Jahrhundert der "schnellen Aufklärung" katapultierte und sie zu umfassenden Transformation ihrer Gesellschaften zwang.

Diese Einschätzung ist zweifelsohne korrekt, doch in diesem Bezug von einer "islamischen Aufklärung" zu sprechen, ist etwas, trotz aller Bemühungen des Autors seine These zu belegen, weit, sehr weit hergeholt und hält einer kritischen Bewertung nicht stand. So sind seine drei hauptsächlichen Zeugen für eine islamische Aufklärung, der Ägyptologe Rifaa al-Tahtawi, der Schriftsteller Namık Kemal und Mirza Saleh, der über seine Europareise in einem Buch berichtete entgegen seiner fulminanten Apologie eher Randfiguren als Reformer im Sinne einer wie auch immer gestalteten Aufklärung.

Die Ziele der Aufklärung sind, und darüber besteht wohl Konsens, sowohl die radikale Trennung von Religion und Gesellschaft als auch das Primat der Wissenschaft vor dem Glauben und, als wesentliche Bedingung für eine freie und gleiche Gesellschaft, der Vorrang eines von Menschen geschaffenen Rechts gegenüber göttlichen Offenbarungen.

Tatsache ist, dass es trotz zahlreicher Bemühungen um gesellschaftliche und politische Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert niemals zu ernsthaften Fortschritten gekommen ist. Dort wo Bellaigue eine "islamische Aufklärung" feststellt, sieht der kritische Beobachter vielmehr Adaptionen westlicher Moden und Techniken, die niemals ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden haben.

Das hat zum einen daran gelegen haben, dass es weder Ägypten noch der Türkei oder dem Iran gelungen ist aus der Übernahme europäischer technischer Fortschritte eine flächendeckende Bildung zu institutionalisieren und säkulare Inhalte in allen Schichten der Bevölkerung zu vermitteln. Ebenfalls fehlte in den drei vom Autor untersuchten Ländern das eigentliche Movens aufgeklärten Denkens, ein wirtschaftlich erfolgreiches Bürgertum, das sich sukzessive der Fesseln des Glaubens und des obrigkeitshörigen Denkens entledigt.

Da wo Bellaigue Fortschritt sieht, wurde in Wirklichkeit kopiert. Dort wo der Autor Freiheit und Demokratie sieht, herrschte immer noch orientalischer Despotismus. Unter den neuen Schlagworten wie Demokratie und Verfassung konnten sich weder die Menschen Ägyptens, noch der Türkei oder des Iran etwas vorstellen. "Sag und, was die Verfassung ist", so schreibt Bellaigue auf Seite 364 bezüglich der Mitglieder einer aus der Hohen Pforte kommenden Delegation von Metzgern.

Mehr als dezent verschweigt der Autor den Widerstand der islamischen Geistlichkeit, der immer ein schwerwiegendes Hindernis auf dem Weg einer, von schon nicht Erneuerung, dann doch wenigstens Diskussionsbereitschaft innerhalb der islamischen Welt bezüglich einer Transformation der koranischen Regeln in eine zeitgemäße und moderne Anwendung darstellte und immer noch darstellt.

Das ist jedoch das dem gegenwärtigen Islam innewohnende und, betrachtet man die derzeitigen globalen Machtdemonstrationen des Islam, wohl auch den Weg des zukünftigen Islam bestimmende Problem: der schlichte Unwille zu Veränderungen, denn, so der Prophet, "das Wort Allahs ist wahr in Ewigkeit". Aufklärung sieht anders aus, auch wenn Autoren wie Bellaigue den Wunsch danach bereits für die Wirklichkeit halten.

Es gab in der Tat den Ansatz zu einer islamischen Aufklärung. Der fand jedoch bereits zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert statt und scheiterte prompt am islamischen Establishment. Wie sich die Zeiten doch ähneln.




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Veröffentlicht am 2. Juli 2018