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Annett ist eine fast fünfzigjährige Frau, die in jungen Jahren ihre große Liebe und ihren Lebenspartner Johan verlor. Seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes trägt sie die Verantwortung für ihre gemeinsame Tochter Linn allein – ein Schicksal, das sie mit stoischer Hingabe und unerschütterlichem Pflichtgefühl annimmt. Noch heute bewohnt sie das Haus am nordfriesischen Wattenmeer, das sie und Johan vor Linns Geburt erworben hatten: ein solides Gemäuer zwischen salziger Luft und endlosem Horizont, zugleich Zufluchtsort und Gefängnis. Jegliche Unterstützung allerdings bleibt aus – weder die eigenen Verwandten noch die Familie ihres verstorbenen Mannes reichen ihr eine helfende Hand. In den darauffolgenden Jahren arbeitet Annett nur in Teilzeit und lebt dadurch in bescheidenen finanziellen Verhältnissen, wobei sie jeden Euro zweimal umdreht.
Ihr Lebensziel bestand darin, jeglichen Schaden von ihrer Tochter abzuwenden. Hinter diesem hehren Anspruch aber verbarg sich mehr: Ein unbewusstes Hineinprojizieren eigener Hoffnungen und Träume auf Linn, die zunächst wider Erwarten in allen Punkten den Vorstellungen ihrer Mutter zu entsprechen schien. Abitur mit Auszeichnung, engagiertes Mitwirken in Ökoprojekten, ein Studium im Umweltmanagement und schließlich eine gut dotierte Stelle bei einer renommierten Berliner Beratungsfirma – der scheinbare Triumph auf ganzer Linie.
Doch der Schein trügt. Bei einem öffentlichen Vortrag bricht Linn ohnmächtig zusammen und wird in eine Klinik eingeliefert. Annett reist unverzüglich an, und im Krankenhaus begegnet sie ihrer Tochter in erschütterndem Zustand: schweigsam, leer und zutiefst desillusioniert. Aus dem beabsichtigten kurzen Klinikaufenthalt entwickelt sich für beide eine monatelange Auszeit an der Küste – ein erzwungener Rückzug in das Elternhaus, in dem sich nicht nur ihr Alltag, sondern auch ihre Beziehung zueinander grundlegend neu justieren muss.
Zum Entsetzen Annetts schlägt Linn nun einen gänzlich anderen Weg ein: Statt in die Karriere zurückzukehren, nimmt sie eine Aushilfstätigkeit in einer kleinen Bäckerei an. Diese Entscheidung konfrontiert Annett unweigerlich mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und dem eingestandenen Versagen, jemals ein selbstbestimmtes Leben geführt zu haben. Die intensive Mutter-Tochter-Konstellation, mal liebevoll, mal angespannt, legt unaufhörlich alte Wunden und ungeklärte Konflikte frei.
Durch den geschickten Einsatz von Rückblenden erfahren wir, wie tief Annett im Schwebezustand zwischen Trauer und Verantwortung gefangen ist, wie sie nach Johans Tod nie wirklich Abschied nehmen konnte und sich in einer selbstgezimmerten Einsamkeit verliert – einem schützenden, doch zugleich lähmenden Kokon. Zwei Welten prallen aufeinander: Die rebellische Sehnsucht Linns nach Authentizität und Einfachheit gegen die gesetzten Erwartungen der Mutter, in der sich ihre eigene Vergangenheit spiegelt.
Erst allmählich treten die verborgenen Ressentiments zutage: Linn erkennt, dass ihr zeitweiliges Glück in der Bäckerei ihre Mutter enttäuscht, weil es nicht in das vorgefertigte Bild vom Lebensweg ihrer Tochter passt. Und Annett muss einsehen, dass sie ihrer Tochter nie gerecht werden konnte, solange sie deren Leben als Verlängerung ihrer eigenen Hoffnungen verstand.
Im bewegenden Schlussakt begeben sich beide Frauen auf ihre ganz persönlichen Aufbrüche: Annett wagt eine zwischenmenschliche Öffnung, verlässt ihren Kokon und sucht Anschluss jenseits ihrer selbstgewählten Isolation. Linn wiederum durchschaut den hohlen Klang vieler Umweltversprechen – gerade wenn Unternehmen mit CO₂-Zertifikathandel glänzen, sich aber im Kern des Greenwashings bedienen. Indem sie die Fassade durchschaut, findet sie zu einer authentischen Haltung, die weder die Ideale ihrer Mutter verrät noch die eigenen Überzeugungen aufgibt.
Kristine Bilkaus „Halbinsel“ besticht durch eine klare, unaufgeregte Diktion und meisterhaft dosierte Perspektivwechsel. Ohne moralischen Zeigefinger zeichnet der Roman die feinen Widersprüche zwischen den Generationen nach und lässt dabei Raum für Empathie auf beiden Seiten. So entsteht ein eindringliches Porträt zweier Frauen, die lernen müssen, sich selbst und einander in ihrer je eigenen Wahrheit zu akzeptieren – eine leise, aber ungemein berührende Studie über Verlust, Projektion und die Suche nach Echtheit.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 4. Mai 2025