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Buchkritik -- Joël Dicker -- Ein ungezähmtes Tier

Umschlagfoto, Buchkritik, Joël Dicker, Ein ungezähmtes Tier, InKulturA In seinem neuesten Roman wagt Joël Dicker eine subtile, aber bedeutsame Distanzierung vom klassischen Kriminalroman und präsentiert seinen Lesern dennoch einen mitreißenden Thriller, der voller Mysterien, raffinierter Intrigen und überraschender Wendungen steckt. Jedes Detail, jede scheinbar zufällige Begegnung und jede noch so beiläufige Bemerkung fügt sich wie ein fein austariertes Puzzle zusammen, das sich erst nach und nach in seiner vollen Tragweite erschließt. Alles geschieht aus einem bestimmten Grund, jedes Ereignis hat seine Wurzeln tief in der Vergangenheit, und jede Figur verbirgt Geheimnisse, die sie um jeden Preis vor den anderen zu schützen versucht.

Dicker brilliert wie gewohnt nicht nur durch eine ausgeklügelte Erzählstruktur, sondern auch durch seine charakteristische Detailverliebtheit, die es ihm ermöglicht, jedes noch so kleine Element der Handlung minutiös zu datieren und in einen größeren Zusammenhang zu setzen. Dadurch versteht der Leser nicht nur, was die Figuren antreibt, sondern wird auch selbst zum Ermittler, der zwischen den Zeilen liest und nach verborgenen Bedeutungen sucht.

Der Roman beginnt am 2. Juli 2022 in Genf, wo ein spektakulärer Raubüberfall auf ein exklusives Juweliergeschäft akribisch vorbereitet wird. Doch bevor sich der Erzähler diesem dramatischen Ereignis zuwendet, unternimmt er eine Reise in die Vergangenheit, um die zentralen Figuren des Romans vorzustellen. Sie alle sind auf die eine oder andere Weise in das bevorstehende Verbrechen verwickelt – freiwillig oder unfreiwillig, als Drahtzieher, Mitwisser oder gar als Opfer einer Verkettung tragischer Umstände.

„Ein ungezähmtes Tier“ ist nicht nur ein fesselnder Thriller, sondern auch eine vielschichtige Familiengeschichte, die zwei vollkommen unterschiedliche Lebensrealitäten gegeneinanderstellt. Auf der einen Seite steht die makellose, idealisierte Familie, die von der Gesellschaft bewundert und beneidet wird, auf der anderen Seite eine Familie, die der Durchschnittlichkeit verhaftet ist, mit all ihren Ecken, Kanten und alltäglichen Frustrationen. Doch während die einen sich nach dem vermeintlich perfekten Leben sehnen, das sie aus der Ferne beobachten, wird nach und nach deutlich, dass hinter der schillernden Fassade der anderen tiefe Risse und dunkle Abgründe lauern. Der Leser sollte sich stets bewusst sein, dass sich alles um den besagten Raubüberfall dreht – ein Ereignis, das wie ein Sog alle Beteiligten mit sich reißen wird.

Im Zentrum der Geschichte stehen Greg und Karine, ein scheinbar normales Ehepaar mit zwei Kindern. Greg ist Kommandant einer Spezialeinheit der Polizei, die für die härtesten Einsätze gerufen wird, während Karine, die ein Schuhgeschäft führt, sich zunehmend in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter gefangen fühlt. Auf der anderen Seite stehen Arpad, ein erfolgreicher Bankangestellter, und seine Ehefrau Sophie, eine atemberaubende Anwältin, deren natürliche Ausstrahlung niemanden unberührt lässt – weder Männer noch Frauen. Karine bewundert Sophie ebenso sehr, wie sie sie insgeheim beneidet, während Greg ihr mit einer ungesunden Obsession verfallen ist und sie sogar heimlich von ihrem hochmodernen, gläsernen Anwesen aus beobachtet.

Die Handlung gewinnt an Komplexität, als eine fünfte Figur auf den Plan tritt – eine undurchsichtige Person, die mit einem scheinbar harmlosen Geschenk für Sophie eine Kettenreaktion auslöst, die das Leben aller Beteiligten aus den Fugen geraten lässt. Plötzlich ist nichts mehr, wie es scheint: Lügen, Verrat und geschickte Manipulationen kommen ans Licht, und hinter der bürgerlichen Fassade der Protagonisten tun sich Abgründe auf, die alle bisherigen Gewissheiten infrage stellen. Die Vergangenheit kehrt mit unbarmherziger Wucht zurück, um sich ihren Tribut zu fordern, und nichts kann mehr so bleiben, wie es war. Der sorgsam gepflegte Anstrich der Wohlanständigkeit beginnt zu bröckeln, bis die Wahrheit unaufhaltsam ans Licht dringt.

Dickers Figuren sind mit einer beeindruckenden psychologischen Tiefe gezeichnet und bewegen sich in den unterschiedlichsten Graustufen, was ihre Handlungen umso authentischer und nachvollziehbarer macht. Ihre Gedanken, Sehnsüchte und moralischen Dilemmata sind von einer Beklemmung durchzogen, die den Leser immer wieder dazu bringt, Parallelen zu seinen eigenen Erfahrungen zu ziehen.

Wie schon in früheren Werken beweist Joël Dicker auch hier seine Meisterschaft darin, den Leser in die Irre zu führen. Jedes Mal, wenn man glaubt, der Lösung des Rätsels auf der Spur zu sein, dreht er das Spiel um und präsentiert eine neue Wendung, die alles bisher Geglaubte in Frage stellt. Diese unvorhersehbaren Entwicklungen verleihen dem Roman eine atemberaubende Dynamik, die zwischen atemloser Spannung und amüsanten Momenten wechselt – Momente, in denen der Leser entweder ungläubig den Kopf schüttelt oder laut auflachen muss, weil er erneut auf eine falsche Fährte geführt wurde.

Nach der letzten Seite bleibt die Erkenntnis, dass es manchmal unmöglich ist, ein „ungezähmtes Tier“ zu bändigen. Dicker spielt virtuos mit dieser Erkenntnis und führt uns vor Augen, dass das Menschliche, mit all seinen Widersprüchen, Schwächen und Leidenschaften, niemals vollständig kontrolliert werden kann.

Ein fesselnder, intelligenter und spannender Roman, der sich nicht nur an Thriller-Fans richtet, sondern an alle, die sich auf ein komplexes psychologisches Verwirrspiel einlassen wollen. Klare Leseempfehlung!




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Veröffentlicht am 22. März 2025