Buchkritik -- Walter Wüllenweber -- Die Asozialen

Umschlagfoto, Walter Wüllenweber  --  Die Asozialen Die deutsche Mittelschicht befindet sich in einem Zweifrontenkrieg, der, auf der einen Seite, am unteren Ende der gesellschaftlichen und sozialen Leiter von den, benutzt man die Diktion des Autors, Dummen und Ungebildeten, und auf der anderen Seite, am oberen Ende, von den Reichen und Vermögenden geführt wird. "Die Asozialen" von Walter Wüllenweber entlarvt tradierte und lieb gewordene Vorstellungen des deutschen Gesellschaftsmodells.

Wenn jemand den Pfad der politischen Korrektheit verlässt und auf lang eingeübte Euphemismen verzichtet, begibt er sich in ein gefährliches Fahrwasser. Du meine Güte, tönen da schon die scheinbar sozial motivierten Gesellschaftsingenieure, die da oben darf man ja mit dem wenig schmeichelhaften Wort asozial bezeichnen, aber doch im Himmels Willen nicht diejenigen, die sich bereits ganz unter befinden und denen man doch die Hilfe des Staates angedeihen muss.

Nichts könnte falscher sein, so der Tenor des Autors. Beide Enden der gesellschaftlichen Pyramide sind Nutznießer der Mittelschicht. Während die Politik dafür sorgt, dass ganz oben bei den Vermögenden - Wüllenweber differenziert zwischen Einkommen und Vermögen - die steuerliche Belastung bzw. überhaupt erst einmal die fiskalische Erfassung minimal ist und diese Gruppe zudem durch professionelle Berater den Weg ihres Geldes verschleiert, ist das untere Ende von einer inzwischen milliardenschweren Sozialindustrie abhängig. Die Rechnung zahlt die Mittelschicht.

Eine Gesellschaft zerfällt zuerst an den Rändern. Diese Erosion fand in Deutschland schleichend statt und ihre Auswirkungen zeigen sich erst jetzt. Im Glauben daran, dass der Staat die Pflicht hat, sich um das materielle Wohl von in Not geratenen Bürgern zu kümmern, ist ein soziales Versorgungssystem aufgebaut worden, dass sich inzwischen dermaßen verselbstständigt hat und auch von den verantwortlichen Politikern und den "Sozialverwaltern" in den Ämtern der Republik nicht mehr durchschaut wird.

Armut ist per definitionem weniger die Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustands, sondern vielmehr zu einem politischem Kampfbegriff geworden. Bei einer Armutsgrenze, die in Deutschland bei 60 Prozent (sic) des durchschnittlichen Einkommens liegt, kann es sich kein Politiker - ist ihm an seiner weiteren Karriere gelegen - leisten, am politischen Dogma der finanziellen Umverteilung nach unten zu rütteln.

Viel Geld hilft viel, so die tradierte, jedoch leider falsche politische Grundannahme. Konnte man, der Autor gibt zahlreiche Beispiele - in den siebziger Jahren noch davon ausgehen, dass Menschen, die unverschuldet in eine materielle und finanzielle Notlage geraten sind, den festen Willen und die persönliche Stärke hatten, sich aus dieser Situation zu retten - sprich Arbeit suchen und ein geregeltes Leben führen - so hat sich diese Sachlage sukzessive verändert.

Zwei Bevölkerungsschichten, die Unterschicht, eine zahlenmäßig große und die vermögende Oberschicht, eine naturgemäß kleine, haben sich inzwischen vom Ideal der Mittelschicht und der Schmiere, die, will sie funktionieren, jede Gesellschaft benötigt, vollkommen abgewendet. "Disziplin,Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein - die oft belächelten Sekundärtugenden...", so Walter Wüllenweber haben für diejenigen, sich sich an den beiden Enden des Gesellschaftsmodells befinden keine Bedeutung mehr.

Abgeschottet in jeweils mit eigenen Regeln und Verhalten ausgestatteten Sphären, profitieren beide von den Leistungen der Mittelschicht. Sozialtransfer nach unten und Vermögensrettung nach oben. Eine überbordende Sozialmafia kümmert sich um die Dummen und Ungebildeten, deren Promiskuität die Arbeitsplätze und die Gewinne der Sozialindustrie sichert. Die Politik kümmert sich dagegen beinahe liebevoll um die Schicht der Vermögenden, indem sie ihnen ihre, der Finanzkrise geschuldeten Spekulationsverluste durch die Rettung von "systemrelevanten" Banken ersetzt hat. Wer zahlt? Die Mittelschicht.

"Die Asozialen" von Walter Wüllenweber macht wütend, ohne Frage. In der Sozialwirtschaft arbeiten inzwischen mehr Menschen als in der Automobilindustrie. Die Vermögenden entziehen ihre durch Spekulation und/oder Erbschaften erlangten Gelder dem steuerlichen Zugriff. Beide Gruppen, ober und unten, haben ihre eigenen Lobbyisten, die für die Legislative Gesetze formulieren. Teilweise, so der Autor, mit einem "Büro und einer eigenen Durchwahl in den Ministerien."

Die so gern von Politikern beschworene Solidargemeinschaft gibt es nicht mehr. Leider, so die richtige Aussage Wüllenwebers, hat die Mittelschicht, von der die Begleichung der Rechnung verlangt wird, immer noch die falsche Vorstellung von der Funktionsweise der Gesellschaft. Indem sie ihre eigenen Ziele, ihre Lebensweise und ihre Lebensplanung als immer noch allgemeingültig - was bis vor 40 Jahren auch noch der Fall war - betrachtet, ist sie nicht dazu in der Lage, die fortgeschrittene Deformation der Gesellschaft zu bemerken. Jede Landtags- oder Bundestagswahl ist ein trauriger Beweis für diesen Trugschluss.

Der Autor bietet keine Lösung an, kann angesichts des Ausmaßes dieses Komplotts gegen die Mittelschicht auch keine Lösung anbieten. Zu groß ist inzwischen der Einfluss bezahlter Interessenvertreter beider Seiten. Zu groß ist das offensichtliche Versagen der Politik. Was kann der zur Begleichung der Zeche verdammte Bürger also dagegen unternehmen, dass seine Kinder und Enkel auch weiterhin zur Vermehrung fremden Vermögens oder zur Garantie für leistungsbefreites Leben anderer beitragen müssen? Vielleicht sich erst einmal aus dem fatalen Irrtum befreien, dass das Lebensmodell der Mittelschicht noch als ein gesamtgesellschaftliches gilt. Wenn diese Erkenntnis erst einmal erreicht ist, dann stellt sich, quasi automatisch, die Frage nach der Berechtigung dieses Systems. Doch ob Häuslebauer, ob Facharbeiter und leitende Angestellte, ob die arbeitende Bevölkerung die überhaupt stellen will, ist mehr als fraglich.




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