Buchkritik -- Stefan Soder -- Die Tour

Umschlagfoto, Buchkritik, Stefan Soder, Die Tour, InKulturA Kann Leben, unabhängig wo und wie es stattfindet, überhaupt gelingen? Ist der jeweils gewählte Beruf oder der Aufenthaltsort ausschlaggebend für das, was Neudeutsch unter Work-Life-Balance, der Einklang von Arbeits- und Berufsleben, verstanden wird?

Franz und Bernd, seit frühester Jugend unzertrennliche Freunde, gleichwohl Konkurrenten, haben Lebenswege eingeschlagen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Franz ist, nach früher Heirat, seinem Tiroler Heimatdorf verbunden geblieben, während Bernd sein Leben international angelegt hat. Lehrer der eine, im globalen Finanzdienstleistungssektor tätig der andere, unternehmen sie eine gemeinsame Skitour, um vordergründig ihre längst zerbrochene Freundschaft wieder aufleben zu lassen, in Wahrheit will Bernd jedoch seinem ehemaligen Freund ein Geständnis machen, das dazu führen könnte, aus alten Freunden neue Feinde zu machen.

Wahrend des Aufstiegs lassen beide ihre gemeinsame Vergangenheit Revue passieren und schnell wird klar, dass unter dem dünnen Firnis vermeintlicher Zufriedenheit Abgründe der Verzweiflung liegen, die bei Franz, so die Diagnose seiner Ärztin, zu autoaggressivem Verhalten und Zwangsstörungen führt. Bernd dagegen, wohl wissend, dass seine Karriere im „Mach Geld, mach noch mehr Geld, mach Geld aus dem Nichts“ Business zum Stillstand gekommen ist, weil andere, jüngere und noch skrupellosere „Finanzdienstleister“ ihn längst überholt haben, hat sich längst in dem Zynismus einer globalisierten und selbst ernannten Elite eingerichtet.

Stefan Soder lässt zwei Welten aufeinander prallen, die, so divergent sie auch sind, aus den Beteiligten Getriebene machen, die längst die von anderen festgelegten Regeln verinnerlicht haben. Was wie Individualität erscheint, sowohl Franz als auch Bernd sind von ihrer jeweils eigenen überzeugt, ist in Wirklichkeit fremdbestimmt. Der eine, Franz, ist bemüht, immer wieder sein Bild als engagierter Bürger und Bewohner des Dorfes unter Beweis zu stellen, was ihm bis zu seinem Scheitern – die Befürwortung eines dubiosen Tourismusprojekts – auch gelingt und Bernd kann und will keine Konsequenzen aus seiner beruflichen Sackgasse ziehen.

Als sie ihr Ziel, eine Berghütte, erreichen und sich ein heftiger Schneesturm ankündigt, lässt sich die während des Aufstiegs mühsam errichtete Distanz nicht mehr halten und unter dem Einfluss alkoholischer Enthemmung – die Hütte ist ein bevorzugtes Ziel von Jagdgesellschaften und dort lagert eine Menge Gemeinsamkeit stiftende Getränke – ist der Augenblick für den „Showdown“ gekommen und Bernd gesteht seinem Freund ein Geschehen, das Franz vermeintlich zu einer Kurzschlussreaktion treibt.

„Die Tour“ ist eine subtile Sezierung individueller Befindlichkeiten, die sich scheinbar als festgefügt, als die Psyche und den gewählten Lebensweg bestimmend darstellen, in Wahrheit jedoch nur Fassaden sind. Franz und Bernd, das lässt der Autor hintergründig mitschwingen, wären manchmal gerne in der Position des anderen, verharren nichtsdestoweniger jedoch in ihren eigenen Blickwinkeln.

„Man konnte sich nicht selbst belügen. Die Freiheit bestand lediglich in der Wahl der Lüge“, so bringt es Stefan Soder auf den Punkt. Das erklärt auch die am Ende des Romans stattfindende, bestenfalls halbherzig zu nennende und zudem den Falschen treffende gewalttätige Aktion von Franz.

Die Frage, wie sich gelungenes Leben manifestiert, muss letztendlich offen bleiben.




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Veröffentlicht am 2. November 2019