Deutschland Ende der 1790er Jahre. Ein Flickenteppich aus kleinen und kleinsten Fürstentümern. Mitten in Europa gelegen und, sagen wir es unverblümt, politisch und wirtschaftlich verschlafen. Ein unbedeutendes Land, das, mangels maritimer Möglichkeiten, sein intellektuelles Heil weniger im Außen, in der „großen weiten Welt“ suchte, sondern im Kleinklein der Introversion, der Selbstbespiegelung fand; darin jedoch groß, so groß sich fühlend, anmaßend dergestalt, der übrigen Welt zu zeigen, wo der – deutsche – Hammer der Gelehrsamkeit hängt. Auf also mit Andrea Wulf auf die Bühne einer Kleinstadt mit dem Namen Jena, deren illustre temporäre Bewohner sich dazu berufen fühlten, Resteuropa fortan den philosophisch-literarischen Ton vorzugeben. Vorhang auf für die Titanen des – deutschen Geistes – die, bis auf Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt, nicht über den Tellerrand des Flickenteppichs deutscher Kleinstaaten hinausgekommen sind.
„Ein Philosophiestudent, der im Frühjahr 1797 ein Konzert im Herzen Deutschlands besuchte, traute seinen Augen kaum. In einer Reihe saßen Johann Wolfgang von Goethe, der größte Schriftsteller seiner Zeit; Johann Gottlieb Fichte, der Philosoph der Stunde, dessen vollgepackte Vorlesungen Studenten aus ganz Europa anzogen; Alexander von Humboldt, der gerade eine Karriere angetreten hat, die unser Verständnis der Natur verändern würde; und August Wilhelm Schlegel, der sich damals als Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer einen Namen machte. Es schien außergewöhnlich, so viele berühmte Männer aneinandergereiht zu sehen.“
Zu dem Zeitpunkt war die intellektuelle Welt in Jena, einer ruhigen Universitätsstadt im Herzen Deutschlands mit nur 800 Häusern und weniger als 5.000 Einwohnern, noch in Ordnung. Als das 18. Jahrhundert in das 19. Jahrhundert überging, hatte Jena für kurze Zeit den Anspruch, die geistige Hauptstadt Europas zu sein. Dort waren die besten Köpfe der Nation versammelt und mit ihnen die nicht ausbleibenden Querelen zwischen Literaten und Philosophen.
Es ist selten, dass sich außergewöhnlich talentierte Menschen für eine gewisse Zeit an einem Ort versammeln, um sich gegenseitig zu ermutigen und anzuspornen. Nicht so selten ist allerdings das Aufkommen von Animositäten, gekränkten Eitelkeiten und Dissonanzen in deren Verhältnis. Jena in den späten 1790er und frühen 1800er Jahren war eine solche Stadt und bot das Podium für Menschliches allzu Menschliches. In ihrem Buch „Fabelhafte Rebellen“ erzählt Andrea Wulf die Geschichte dieser Gruppe junger Schriftsteller und Dichter, die sich, wie Goethe es beschrieb, in „diesem lieblichen, verrückten Fleckchen Erde“ zusammenfanden.
Den harten Kern der Truppe bildeten die Schlegels, August Wilhelm und seine Frau Caroline, die gemeinsam an der Übersetzung von Shakespeares Stücken in deutsche Verse arbeiteten. Friedrich, der jüngere und streitsüchtigere Bruder von August Wilhelm, ebenfalls Schriftsteller und Kritiker, der eine Zeit lang in Caroline verliebt war. Der Dichter und, wie er selber schrieb, fleißige Selbstliebhaber – Woody Allen lässt grüßen – Friedrich von Hardenberg („Novalis“), gleichsam die Verkörperung von Goethes jungem Werther in seiner melodramatischen Pose und Anbetung – heute würde das den Staatsanwalt auf den Plan rufen – eines kränklichen, pubertierenden Mädchens. Nicht zuletzt der ernsthafte junge Philosoph Friedrich Schelling, dessen Naturphilosophie das Ich als eins mit allem Lebendigen ansah und der die Kunst als Ausdruck dieser Vereinigung betrachtete.
Sie hielten sich, etwas selbstverliebt, für klüger, witziger und poetischer als ihre Mitmenschen. In ihren Augen waren sie „die Auserwählten“, die, wie andere junge Menschen ihrer Generation in ganz Europa vom Umbruch der Französischen Revolution inspiriert und damit zu einer Herausforderung für etablierte Autoritäten wie Adel und Klerus wurden. Ihre Respektlosigkeit führte zwangsläufig zu erbittert geführten Fehden, zunächst zwischen dem Aufsteiger Schlegel und dem arrivierten Dichter und Dramatiker Friedrich Schiller, später dann zwischen Schelling und Fichte. Carolines Lebensstil, ihre Weigerung sich an Konventionen anzupassen, brachte ihr ebenfalls Missbilligung ein, insbesondere natürlich von anderen Frauen. Damals ein Skandal erster Güte: Sie ließ sie sich von August Wilhelm scheiden und heiratete den 12 Jahre jüngeren Schelling. Trotzdem blieb es eine gelungene ménage à trois.
Ein Grund, warum Jena zu einem solchen Magneten für freie Geister wurde, war die für damalige politische Verhältnisse ungewöhnliche Verfassung der Universität, die ihren Professoren vergleichsweise große Freiheiten einräumte. Der prominenteste von ihnen war Fichte, für den „die Quelle aller Realität das Ich“ ist. Sein Ich-Konzept stellte das Selbst in den Mittelpunkt: zwangsläufig die attraktive Vorstellung für selbstbezogene junge Menschen.
Goethe wurde durch die Anwesenheit Schillers aus seiner Heimatstadt Weimar nach Jena gelockt und während seines Aufenthaltes in Jena trafen er und Schiller sich täglich, da sie nur wenige Gehminuten voneinander entfernt wohnten. Kleinstadt bleibt eben Kleinstadt. Sie gaben ein seltsames Paar ab, wenn sie zusammen durch die Stadt spazierten. Der blasse Dramatiker überragte den älteren und jetzt korpulenten Dichter. Wie die jungen englischen Dichter Wordsworth und Coleridge arbeiteten Goethe und Schiller eng zusammen, bearbeiteten die Werke des jeweils anderen und schlugen Verbesserungen und Änderungen vor. Nach Schillers Tod bemühte sich Goethe erfolglos, sein unvollendetes Werk zu vollenden.
Goethe und Schiller waren unfreiwillig, dadurch sich jedoch geschmeichelt fühlende Vaterfiguren der Gruppe jüngerer Schriftsteller und Denker, die es nach Jena zog. Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen wurden zu einem der Gründungsdokumente dieser neuen Generation von Denkern, die sich Romantiker nannten.
Goethe, der letzte Universalgelehrte, war ein Renaissance-Mensch, der sich ebenso für Wissenschaft wie für Literatur interessierte. Ein weiterer Anziehungspunkt Jenas war für ihn die Gesellschaft des jungen Wissenschaftlers Alexander von Humboldt. Kein Wunder, waren die zwei doch die einzigen der Gruppe, die mehr von der Welt sahen und sehen würden, als die anderen.
Die beiden gründeten „unsere kleine Akademie“, in der sie gemeinsam Sektionen und Experimente durchführten, darunter auch galvanische Tierversuche. Für die Romantiker schien Elektrizität das Movens des Lebens zu sein und es war bestimmt kein Zufall, dass Mary Shelleys tragisches Monster Frankenstein durch eine gewaltige elektrische Ladung zum Leben erweckt wurde.
„Fabelhafte Rebellen“ ist mit den Porträts, der dynamischen Diktion und seinen zündenden Ideen ein faszinierendes Buch. Wulf schreibt mit einer klaren, fließenden Sprache, die jedoch weitaus weniger in die verschiedenen Gedankengebäude der Protagonisten einführt, als vielmehr Klatsch und Tratsch der damaligen Zeit kolportiert. Wer mit wem und wie oft. Das hat leider einen Beigeschmack von Klatschblättern.
Ihr Buch beginnt mit einem autobiografischen Prolog, in dem sie erklärt, wie sie als impulsives Kind fortschrittlicher Eltern die Schule vorzeitig verließ und, anstatt zu studieren, in jungen Jahren alleinerziehende Mutter wurde und dabei lernte, ihre Vorstellung von individueller Freiheit zu leben. Diese Einführung erklärt ihre spürbar starke Sympathie für Caroline Schlegel, die Frau im Mittelpunkt des Buches.
Die Jenaer Gruppe löste sich 1803 auf und zerstreute sich in einem allgemeinen Exodus über Deutschland und darüber hinaus. „Fabelhafte Rebellen“ endet mit einem dramatischen Kapitel, als französische Truppen 1806 in Jena eintreffen, die Stadt plündern und Gebäude in Brand stecken, bevor die Schlacht mit einer verheerenden Niederlage für die preußische Armee endet. Der siegreiche Kaiser schlief in dieser Nacht in Goethes Bett. Trotzdem war Napoleon kein Feind für die Jenaer Gruppe, sondern ein Held. Sie bewunderten ihn als Naturgewalt. Nicht alle ihre Zeitgenossen dürften dieser Meinung gewesen sein.
In ihrem Epilog geht Wulf dem Einfluss der Jenaer Denker auf die nachfolgenden Generationen nach. Von den englischen romantischen Dichter, insbesondere Coleridge, über die amerikanischen Transzendentalisten (Thoreau, Emerson und Whitman), bis hin zu den Gedanken von Sigmund Freud und James Joyce in die Gegenwart.
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Veröffentlicht am 16. Januar 2023