Buchkritik -- Orlando Figes -- Krimkrieg - Der letzte Kreuzzug

Umschlagfoto  -- Orlando Figes  --  Krimkrieg - Der letzte Kreuzzug Der Krimkrieg, von 1853-1856 zwischen Russland auf der einen und dem Osmanischen Reich, Frankreich und England auf der anderen Seite geführt, ist ein, im europäisch-asiatischen Kontext, vergessener Krieg. Während für viele Historiker die beiden Weltkrieges des 20. Jahrhunderts im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stehen, ist der russisch-türkische Konflikt als einer unter vielen dieser beiden Kontrahenten an der Bruchlinie zwischen Europa und Asien stets als marginal erachtet worden.

Der britische Historiker Orlando Figes hat diesen Krieg mit seinem Buch "Krimkrieg - Der letzte Kreuzzug" dagegen als einen zentraler Punkt für die danach folgenden politisch-historischen Interessenlagen der daran beteiligten Großmächte verortet. Darüber hinaus war dieser militärische Konflikt der erste "modern" geführte Krieg - zumindest auf der Seite der verbündeten Mächte Frankreich und England. Durch moderne Kommunikationsmittel wie den Telegraphen und die Presse, die durch eine industrialisierte Form des Zeitungsdrucks ein Massenpublikum erreichen konnte, spielte das allererste Mal die "öffentliche Meinung" eine ausschlaggebende Rolle bei den Entscheidungen der französischen und englischen Politiker.

Wenn Figes den Krimkrieg als "letzten Kreuzzug" bezeichnet, dann ist ihm insofern zuzustimmen, dass der ursächliche Auslöser eine religiöse Auseinandersetzung darüber war, wer über die Nutzung der Kirche zum Heiligen Grab in Jerusalem zu entscheiden habe. Teilten sich bislang die verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen den Besitzanspruch und die Verfügbarkeit, so hatten die griechisch-orthodoxen Christen seit dem frühen 19. Jahrhundert ihre Forderung nach alleinigem Recht zur Schlüsselbewahrung der Grabeskirche stetig ausgeweitet. Dies wiederum versuchten besonders die französischen Katholiken zu verhindern.

In völliger Verkennung der realen Machtverhältnisse erklärte der russische Zar Nikolaus I. sein Recht zum Schutz der Christen im osmanischen Reich und zur alleinigen Schirmherrschaft über alle Christen im Heiligen Land. In erster Linie jedoch war das religiöse Motiv, wie so oft, nur ein willkommener Vorwand Russlands, um sich den inneren Zerfall des osmanischen Reiches zu Nutze zu machen und dem "kranken Mann am Bosporus" die Kontrolle über die wirtschaftlich und militärisch so wichtigen Meerengen des Bosporus und der Dardanellen zu entreißen. Frankreich und England konnten diese russische Expansion im Hinblick auf ihre eigenen Machtansprüche in dieser Region nicht akzeptieren.

Orlando Figes beschreibt die verhängnisvollen Mechanismen, die zu der militärischen Eskalation auf der Krim und in Teilen des Kaukasus geführt haben. Der französische Kaiser Napoléon III. beugte sich aufgrund innenpolitischer Schwäche zunehmend dem Einfluss des Katholizismus und war aufgrund dessen zu einem Krieg gegen Russland bereit. In England forderte eine kriegsbegeisterte Presse die Aufnahme von Kampfhandlungen und kam damit den Interessen der britischen Führung, Figes formuliert sie als "Industrialisierung und Freihandel", entgegen.

Obwohl der Krimkrieg als erster "moderner" Stellungskrieg gilt, war er gekennzeichnet von militärischem Unvermögen, Fehleinschätzungen und mangelnder Versorgung der Truppen, sowohl auf englisch-französischer als auch auf russischer Seite. Mangelnde Kommunikation und - auf Seiten der englischen Militärführung - persönliche Animositäten und individuelles Versagen führten zu verwirrenden Situationen und unnötig hohen Opferzahlen. Die medizinische Versorgung Verwundeter war vollkommen unzureichend und ein hoher Anteil der Kriegsopfer war der mangelnden Hygiene und fehlenden Feldärzten geschuldet.

Warum dieser Krieg fast gänzlich aus der europäischen Wahrnehmung verschwunden ist, darüber kann auch Orlando Figes nur spekulieren, war er doch trotz allem, besonders in Bezug auf die globalen Machtansprüche Englands, ein Vorläufer der folgenden europäischen Auseinandersetzungen. Während sich Russland militärtechnisch noch in der Zeit der napoleonischen Kriege mit ihrer unflexiblen Infanterie befand, benutzten - gerade die französischen Truppen - bereits eine moderne, sich auf die Artillerie und kleine aber mobile Verbände stützende Taktik.

Der Krimkrieg hat die dominierende Rolle Russlands, die es nach den napoleonischen Kriegen in Europa hatte, beendet. Die Niederlage zeigte ebenfalls eindringlich die technologische Rückständigkeit Russlands, auf die Zar Alexander II. durch eine Reform der Verwaltung und der Armee reagierte. Trotz der Tatsache, dass es der erste europäisch-asiatische Konflikt gewesen ist, haben sich die Jahre zwischen 1853 und 1856 der europäischen Geschichtsschreibung anscheinend entzogen. Diese Erinnerungslücke wurde jetzt von Orlando Figes gefüllt.




Meine Bewertung:Bewertung