Buchkritik -- Franz Hohler -- Gleis 4

Umschlagfoto, Franz Hohler, Gleis 4, InKulturA Isabelle ist auf dem Weg in den Urlaub. Im Bahnhof bietet ihr ein Fremder seine Hilfe beim Tragen ihres Koffers an und bricht danach tot zusammen. Davon geschockt, nimmt sie von ihrer Reise Abstand. Nachdem die polizeilichen Formalitäten beendet sind, fährt Isabelle nach Hause und stellt fest, dass sich das Mobiltelefon des Verstorbenen unversehens in ihrem Gepäck befindet. Ein Anruf auf diesem Handy weckt die (weibliche) Neugier und sie macht sich daran, etwas über den Toten in Erfahrung zu bringen.

Bis dahin eine interessante Geschichte, die der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler in seinem Buch "Gleis 4" inszeniert. Der Einbruch des Ungewöhnlichen, des Unerwarteten und die Reaktion des Individuums auf ein, in diesem Fall, äußerst verstörendes Erlebnis. Doch leider will der Autor zu viel davon in seinem Roman unterbringen und deshalb leidet das Buch an einer Fülle von Versatzstücken, die aus der zweifelsohne spannenden Idee ein etwas zusammenhangloses Werk machen.

Warum, und das ist schon der erste Ungereimtheit, ist Isabelle förmlich besessen davon, der Vergangenheit des Toten nachzuspüren? Ist es die Suche nach dem eigenen Leben, das nicht so gelaufen ist, wie sie es sich vorgestellt hat? Isabelle, alleinerziehende Mutter, vom Vater der Tochter, ein Arzt aus Mali, bereits vor Jahren verlassen und seitdem mehr oder weniger partnerlos, findet in der Suche nach den Spuren des Unbekannten anscheinend so etwas wie die Fährte ihres eigenen Lebens.

"Gleis 4" will auch ein Roman über die Vergangenheit der Schweiz sein, denn, so findet Isabelle durch den Besuch der Ehefrau des Toten, Véronique, heraus, dieser war ein Schweizer, der auf abenteuerlichem Weg nach Kanada ausgewandert ist. Seine Jugend in einer Pflegefamilie war geprägt von Armut und Gewalt. Ein Schicksal, das er leider wohl mit vielen Kindern gemeinsam hatte, die, von Amts wegen, von ihren ledigen jungen Müttern aufgrund deren, wie es damals hieß, "unsittlichen Lebenswandels" getrennt wurden.

Der Roman hätte dergestalt ein Stück über einen unrühmliche Periode der Schweizer Geschichte sein können. Leider reiht Hohler jedoch im Verlauf der Handlung so manche Unwahrscheinlichkeit neben die nächste. Warum ausgerechnet der Pflegebruder des Toten, das Paradebeispiel eines Schweizer Spießers, eine Voodoo-Puppe, deren "Zauber" auch noch zu funktionieren scheint, sein eigen nennt, bleibt mehr als unklar. Dass ausgerechnet Sarah, die farbige Tochter Isabelles, diese Figur entdeckt und sie daraufhin promt die Bekanntschaft einer Kommilitonin macht, deren Vater Kenntnisse des Voodoo-Kults besitzt, bleibt ebenso unlogisch.

"Gleis 4" aus der Feder von Franz Hohler will vieles auf einmal zum Ausdruck bringen und verliert sich deswegen. Die schweizerische Vergangenheit mit ihren rigiden Moralvorstellungen - aus heutiger Sicht kann man als Autor gut schreiben - war für viele gewiss eine schreckliche Zeit und wenn der Autor sich auf die Aufarbeitung dieser Jahre beschränkt hätte, hätte man den Roman als gelungen bezeichnen können.




Meine Bewertung:Bewertung