Buchkritik -- Karin Nohr -- Kieloben

Umschlagfoto, Buchkritik, Karin Nohr, Kieloben , InKulturA „Die vertrauten Absonderlichkeiten der Eltern waren nichts als Symptome, die das ausdrückten, was der Mensch nicht sagen konnte.“ Ein Satz, vordergründig lapidar, der, lässt man sich auf die unterschwelligen Konnotationen ein, jedoch das ausdrückt, was der Begriff Familie bedeutet. Nichts weniger als ein Raum, der angefüllt wird mit Erwartungen und Enttäuschungen, Geborgenheit und Ablehnung, Illusionen und Realität, die, nicht zuletzt in der Rückschau, abgemildert oder verstärkt werden. Familie kann Segen und Fluch zugleich sein. Das stets ambivalente Verhältnis zwischen den Generationen, zwischen Eltern und Kinder, ist für letztere in der Regel ein lebenslanger Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Inga arbeitet seit dem Tod ihres Mannes, mit dem sie eine internistische Praxis betrieben hat, als Sachbearbeiterin bei der Deutschen Rentenversicherung. Sie hat einen Sohn, der ihr eröffnet, für ein Jahr nach Australien gehen zu wollen. Eine für Inga überraschende Tatsache, die jedoch für sie der Anlass werden wird, auch ihr Leben zu überdenken. 55 Jahre alt ist sie und damit auf der Zielgeraden, wohl wissend, würde jetzt keine Veränderung eintreten, dann niemals mehr.

Während einer Reise nach Norwegen, die sie dorthin führt, wo ihr Vater während des Zweiten Weltkriegs als Offizier auf einem Schiff der Marine diente, beginnt sie mit ihren beiden Brüdern, zu denen der bisherige Kontakt eher sporadisch gewesen ist, eine vorerst per E-Mail geführte Diskussion um die jeweiligen Erinnerungen an die Kindheit und das Verhältnis zu den Eltern.

Matthias, zum Vater ein eher reserviertes Verhältnis habend und Markus, stets auf Ausgleich bemüht, lassen die Familiengeschichte Revue passieren und versuchen die Vergangenheit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, was sich im Endeffekt als unmöglich erweist. Zu unterschiedlich sind die längst internalisierten Erinnerungen.

Matthias ist es auch, der den Geschehnissen, an denen der Vater während des Krieges beteiligt war, nachspürt und er sucht zu diesem Zweck das Bundesarchiv auf, um in den dort aufbewahrten Marinetagebüchern zu recherchieren. Es stellt sich heraus, dass die vom Vater geschilderten Ereignisse nicht kongruent mit dem offiziellen Geschichtsbild sind. Als er bei der Rückkehr von einer Segeltour den Brief von Mette Riccarda Larsson vorfindet, in dem sie behauptet, die Tochter von Richard Niemann, der Vater von Inga, Matthias und Markus, zu sein, erhält die Suche nach der wahren familiären Geschichte eine neue und zumindest für Inga spannende Wendung.

Familie, das erzählt Karin Nohr, ist mehr als die biologische Abstammung. Sie ist die Summe erlebten Lebens, dessen Facetten die gesamte Spannbreite menschlicher Erfahrungen abbilden. Nicht immer, auch das beschreibt die Autorin mit ruhiger Diktion, ist das, was wir von den Eltern zu wissen glauben auch das, was die längst vergangene Realität abbildet.

Im Gegensatz zu ihren Brüdern, die der Halbschwester bestenfalls reserviert gegenüber stehen, ergreift Inga, die ohnehin spürt, ihrem Leben eine neue Wendung geben zu müssen, die Chance einer persönlichen Veränderung. Das Ende bleibt offen, ist, wie die „Absonderlichkeiten der Eltern“, niemals restlos zu bestimmen.

„Kieloben“ ist ein ruhiger, nichtsdestoweniger tief berührender Roman über das mentale Erbe, das wir von unseren Eltern, ob wir es wollen oder nicht, annehmen müssen.




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Veröffentlicht am 11. August 2019