Buchkritik -- Lea Söhner -- Die Vögel singen weiter

Umschlagfoto, Buchkritik, Lea Söhner, Die Vögel singen wieder, InKulturA „Unsere Zeit weiß leider auch wenig von Rückschau, vom Verwurzelt-Sein, von der Würdigung der Ahnen und unserer Herkunft.“ Mit diesem kurzen Satz, auf den letzten Seiten ihrer Erzählung geschrieben, legt Lea Söhner den Finger auf eine schwärende Wunde unserer Zeit. Eine Gesellschaft, die es verlernt hat, sich zu ihren individuellen Wurzeln zu bekennen, sich sogar weigert, die Konstanz der Generationenfolge anzuerkennen und ihre Daseinsberechtigung ausschließlich in der Buße der Verbrechen einer nur zwölf Jahre währenden, nichtsdestotrotz massenmörderischen Diktatur sieht, ist eine der Vereinzelung, die schwer an ihrem Bruch mit der historischen Kontinuität leidet und diesen durch eine Hypermoral der spät Geborenen zu kaschieren versucht.

Verlust und Trauer, der Tod eines geliebten Menschen, die Verzweiflung des nun mehr Allein-Seins und, fast zwangsläufig, die Rückschau auf Gewesenes, auf gemeinsame Erlebnisse und die Lebensgeschichten der darin auftauchenden Personen, davon handelt die Erzählung und mit ihr Blicke zurück in eine Zeit, die, gemessen an historischen Maßstäben, erst kurz vergangen ist, die uns Heutigen jedoch eine Welt zeigt, die in ihrer eigenen Komplexität weit von unserem Verständnis entfernt ist und die wohl nur von denen nachvollzogen werden kann, die um die Verwobenheit der Menschen mit ihrer Zeit und ihrem Lebensumfeld wissen und sich einen vorurteilsfreien Blick jenseits der Arroganz der „spät Geborenen“ bewahrt haben.

Es ist der mörderische Wahnsinn der dunklen zwölf Jahre deutscher Geschichte, die das Leben – und den Tod – der Personen bestimmt, die die Autorin mit bewegender und anteilnehmender, selten vorwurfsvoller Diktion Revue passieren lässt; immer wieder den Bezug zur Gegenwart herstellt und so auf ihre Weise die Kontinuität der Generationenfolge nachzeichnet, welche die Gegenwart erst durch die bewusste Verarbeitung individueller Schicksale und Lebensläufe verorten kann.

Man könnte es auf die Formel „es war, wie es war“ reduzieren, wenn sich nicht im Endeffekt herauskristallisieren würde, dass ein Individuum stets den Wechselfällen des Lebens, den Launen des Schicksals und zu schlechter Letzt den politischen Verhältnissen ausgeliefert ist und allzu oft daran zerbricht.

„Die Vögel singen weiter“ ist eine Erzählung über Erträumtes, aber nicht Gelebtes, über Schuld und Vergebung, über Trauer und Neuanfang. Vielleicht wären wir gut beraten, unsere Hybris bezüglich „wir hätten es besser gemacht“ zu überwinden.




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Veröffentlicht am 6. November 2022