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Familie kann vieles sein; ein Hort der Geborgenheit, ein Ort schmerzlicher Konflikte oder gar eine kleine Hölle auf Erden.
Wenn wir von Familie sprechen, denken wir meist an Wärme, Rückhalt und das beruhigende Gefühl, nicht allein zu sein. In der vertrauten Umgebung, in liebevollen Ritualen und im geteilten Alltag entsteht ein sicherer Raum, der unser Selbstwertgefühl nährt. Ein einfaches „Wie war dein Tag?“ kann zum Schlüssel werden, um Sorgen zu teilen und Lasten gemeinsam zu tragen. Solch gelebte Zuwendung schafft ein Fundament, auf dem wir aufrecht stehen können, auch wenn das Leben stürmisch wird.
Doch dieselbe Familie, die Sicherheit verspricht, kann uns auch bis aufs Mark verletzen. Alte Verletzungen, ungerechte Erwartungen oder unausgesprochene Konflikte können im engsten Kreis zur Hölle werden. Missachtung, Kontaktabbruch und Ausgrenzung sind Wunden, die im familiären Kontext geschlagen werden und oft tief treffen, weil sie von jenen stammen, die wir am meisten lieben sollten und die deshalb auch am meisten schmerzen.
Valentin, pensionierter Chemielehrer mit einer unerschütterlichen Leidenschaft für Naturwissenschaften, hat sein Leben fernab seiner lang gehegten Ideale und verborgen hinter einer Fassade stiller Resignation verbracht. Nun aber endet sein Dasein auf tragische Weise: In seiner idyllisch gelegenen Gartenlaube am Uckersee, umgeben von hohen Bäumen und dem sanften Plätschern des Wassers, bricht in einer Nacht Feuer aus, das ihn in den Flammen verschlingen und seinem Leben ein abruptes, schreckliches Ende bereiten wird. Da sich in der Laubenkolonie in den letzten Wochen bereits weitere Feuer ereignet haben, keimt sogleich der Verdacht, dass ein und derselbe Täter, vielleicht aus Neid, vielleicht mit finanzieller Absicht, hinter diesen Brandstiftungen stecken und Valentin sogar gezielt ermordet haben könnte.
Die Nachricht von seinem Tod trifft seine drei erwachsenen Kinder wie ein Donnerschlag: Da ist Peggy, eine resolute, geradezu unerbittliche Frau, die stets darauf bedacht ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen; Bärbel, mit ihrer ausgeglichenen, mütterlichen Art der heimliche Anker der Familie und schließlich Wolfgang, dem die traumatischen Erlebnisse während der verheerenden Choleraepidemie eine schwere Depression bescherten und ihn seither am gesellschaftlichen Leben nur zögerlich teilhaben lassen. Obwohl ihr Verhältnis zu ihrem Vater, ganz in dessen Sinne, über Jahre hinweg karg und distanziert geblieben war, reißen die Flammen vom Uckersee alte Wunden schmerzhaft auf, die lange Zeit im Sog des Alltags begraben lagen.
Die Ermittlungen der Polizei scheinen zunächst auf ein technisches Versagen hinzudeuten: Ein marodes Kabel an einem antiquierten Elektrogerät soll, so der offizielle Befund, den verhängnisvollen Kurzschluss ausgelöst haben. Doch Peggy zweifelt. Ihre Skepsis wächst ins Unerträgliche, als sie erfährt, dass Valentin sein gesamtes Vermögen einer ihr völlig unbekannten Frau namens Ida Rutenberg hinterlassen hat; eine letzte, rätselhafte Tatsache, die niemandem in der Familie erklärlich ist.
Getrieben von der Überzeugung, dass hier mehr im Verborgenen liegt, macht sich Peggy auf die Suche nach Ida: von den grauen Altbaufluren in Magdeburg bis in die entlegenen Wälder Polens, wo sie auf ein Meditationszentrum stößt, betrieben von einer esoterischen Gemeinschaft, die sich anschickt, den Anhängern eine Lebenserfüllung durch „die feinstoffliche Energie des Lichts“ zu versprechen, ganz ohne irdische Nahrung.
Mit Ida Rutenberg führt Dorit David in ihrem Roman „Lichtgier“ eine komplexe Gestalt ein: Die Frau, aufgewachsen in der Enge einer völkischen Sekte, hat sich zur selbstbewussten und erfolgreichen Unternehmerin entwickelt und nun ein lukratives „Prana-Projekt“ in Polen etabliert.
Peggys immer eindringlicher vorgetragene Anschuldigung, Ida verberge hinter ihrem hehren Anspruch kriminelle Machenschaften, bringt sie in direkten Konflikt mit der vor Ort ermittelnden Kommissarin Sybille Satanowsky. Eine Polizistin, die an Prosopagnosie leidet – Gesichtsblindheit –, und deren einziger Trost in den endlosen Wiederholungen ihrer geliebten Tatortfolgen zu liegen scheint. Nebenbei bemerkt: Prosopagnosie bei einer Ermittlerin – was für ein brillanter Einfall!
Bis zum fulminanten Finale gelingt es der Dorit David, die feinen Nuancen familiärer Zwistigkeiten ebenso eindringlich zu zeichnen wie die unterschwelligen Spannungen zwischen Ost und West. Dabei verwebt sie politisch-gesellschaftliche Themen, generationenübergreifende Konflikte und ökonomische Abhängigkeiten zu einem packenden Kriminalroman.
Über allem schwebt die Frage: Was macht ein gelingendes Leben aus? Ist Ida Rutenberg wirklich der manipulativen Ideologie ihres Aufwachsens entkommen oder ist das Prana-Projekt in Polen lediglich eine neue, viel subtilere Form seelischer Ausbeutung? Und warum hat Valentin sich nie gegen sein vermeintlich unerfülltes Leben aufgelehnt, sondern drei Kinder gezeugt, zu denen er niemals emotionale Beziehungen aufgebaut hat?
„Lichtgier“ spinnt ein dichtes Netz aus verpassten Chancen und der unmöglichen Flucht vor den Schatten unserer Herkunft. Mit klarer, unaufgeregter Sprache macht Dorit David daraus eine philosophische Meditation über das Zerbrechliche im Menschen, der stets zwischen Sehnsucht und Selbstzweifel zerrieben wird.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 15. Mai 2025