Buchkritik -- Lida Winiewicz -- Späte Gegend

Umschlagfoto, Buchkritik, Lida Winiewicz, Späte Gegend, InKulturA Nostalgie, der verklärende Blick zurück in die Vergangenheit, wird sich nur leisten, wer weit jenseits von Not und Armut gelebt hat. So ist dann auch die Lebensgeschichte der 80-jährigen Bäuerin, erzählt von Lida Winiewicz, ein Dokument dafür, dass die „gute alte Zeit“, eben nicht den „Glorienschein“ besaß, der ihr rückblickend zugesprochen wird.

Ein Bauernhof im 20. Jahrhundert, zwei Betten für sechs Kinder, weder Bettzeug noch Matratzen, dafür jedoch Stroh, Bettstroh, das zweimal im Jahr gewechselt wurde. Leben am Dauerlimit und die große Politik weit entfernt, jedoch nah genug, um die Männer in zwei großen Kriegen zu verschleißen.

Der Kampf ums tägliche Brot ist hart und nicht immer gehen am Abend alle satt schlafen. Die Tage beginnen früh und enden erst, wenn alles getan ist. Doch wann ist das schon? Die Kleidung muss geflickt werden, es gibt immer etwas zu tun. Im Winter lausige Kälte, tiefer Schnee und Leben von der Hand im Mund. Im Sommer Hitze und immer noch Leben von der Hand in den Mund.

Kindheit war noch kein geschützter Begriff und so bald wie möglich mussten die Kleinen mit anpacken. Irgendetwas fehlte immer und Fragen stellen war „nicht üblich“, von Kindern sowieso nicht.

Die Autorin lässt die Erzählerin, deren Name nie genannt wird, ihr Leben Revue passieren. Ein Leben, das nicht nur für die Generation, für die die Wörter „Sendeschluss“ oder „Testbild“ Begriffe aus der Vergangenheit darstellen, unvorstellbar ist, sondern auch für diejenigen, die es versäumt haben, den Geschichten und Erlebnissen ihrer Großeltern Aufmerksamkeit zu schenken.

Es ist kein Blick zurück im Zorn und kein larmoyantes Rührstück. Es war so, wie es gewesen ist und auch im Nachhinein ist keine Verbitterung bezüglich der Umstände zu bemerken, die Verbitterung angesichts menschlicher Abgründe sehr wohl.

Wenn der oft benutzte, fast abgenutzte Begriff Authentizität zutrifft, dann für „Späte Gegend“, das „Protokoll eines Lebens“.

Nach dem Ende der Lektüre schoss mir eine Frage durch den Kopf, die mich erschreckte. Ist es dieser Zustand, zu dem der aktuelle, fast Maschinen stürmende Zeitgeist zurückkehren möchte?




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Veröffentlicht am 18:September 2020